Aus den Tagebüchern zweier Lebender

 

Erstes Kapitel

 

Liebes Tagebuch 2.7.1988

Wie so kommen mir die Jungen in meiner Klasse nur so kindisch vor? Ich will mit ihnen lachen können, doch kann ich nicht über ihre Art von Späßen lachen, genau wie sie sich an den Kopf fassen, wenn ich etwas lustig finde. Nicht einmal die Mädchen verstehen mich. Man sagt doch immer, daß die Mädchen, den gleichaltrigen Jungen, um ein - zwei Jahre voraus sind. Es fällt mir schwer dies zu glauben. Soll ich denn wirklich so naiv, zurück hinter den anderen Jungen, sein. Nein, das kann ich beim besten Willen nicht glauben. Und lieg` ich hinter den Mädchen, so fällt mir auf, daß sie den Jungen mehr in ihren Arten ähneln als mir. So soll ich denn in meiner Entwicklung weiter vorgestoßen sein, als die Mädchen meines Alters. Es freut mich dieser Gedanke, doch weiß ich, die Nachteile, die schon auf mich war ten, sind schon längst da. Von den Älteren als kleines Kind nicht akzeptiert, von den Gleichaltrigen als fremdes Wesen angesehen, von den Jüngeren will ich nichts wissen. Nun, da die Sommerferien begonnen haben, kann ich ja genügend über mich und meine Lage nachdenken. Wieso bin ich nicht so stark wie Herkules, oder unsichtbar, dann würde ich über alle Grenzen hinweg können und gegen das Böse kämpfen. Diktatoren würde ich nackt durch die Straßen peitschen, wie Zorro. Die Mädchen würden mich bewundern, aber ich würde keine nehmen, denn woher soll ich wissen, ob sie mich lieben, oder meine Macht, die ich habe. Aber eine wäre bestimmt dabei, die mich wirklich lieben würde.

 

Liebes Tagebuch 5.7.1988

Ich habe beschlossen, nie mehr zu lachen, damit man erkennt, wie reif ich doch schon bin. Die Kinder lachen viel mehr als die Erwachsenen. Und alte Menschen sehe ich, bis auf ein paar Ausnahmen, so gut wie nie lachen. Also ist man, je weniger man lacht, um so intelligenter. Ich will auch so schlau wie Lenin sein. Ausnahmen gibt es aber auch. Mein Onkel lacht nie. Vater meint, er sei zu dumm dafür. Mutter schimpft ihn dann immer aus. Er solle vor mir nicht so schlecht über seinen Bruder reden. Oder meine Tante, die lacht immer und überall. Und Mutter sagt, sie sei sehr schlau, denn sie habe ja schließlich studiert. Vater grinst dann immer bloß und fragt, was sie besser studiert hätte, ihr Studium, oder die Anatomie des männlichen Geschlechts. Was mich früher immer verwundert hat. Da sie ja Medizin studiert hat. Heute weiß ich, was er damit meint. Doch ich mag sie trotzdem. Vielleicht, weil ich auch gern Medizin studieren möchte. Aber nicht um die Anatomie des Mannes zu studieren. Vielmehr interessiert mich das weibliche Geschlecht. Wie es aussieht und funktioniert. Wie ich funktioniere, habe ich erst gestern wieder im Freibad erfahren können. Ich liege nichts ahnend auf meiner Decke und lese mein Buch. Mein Blick streift über das Gewühl von Menschen und bleibt an einem sehr hübschen, aber etwas älterem Mädchen hängen. Wie ich merke, daß ich mich auf den Bauch legen muß, um mich nicht zum Gespött der umliegenden Jungs zu machen, werde ich rot. An sich ist ja gegen solche Erfahrungen nichts einzuwenden. Doch es nervt, wenn ich länger als nötig im Wasser bleiben muß, um nicht alle Blicke auf mich zu ziehen. Und dies mit jedem Besuch im Wasser. Und ich war oft im Wasser, sehr oft. So frag` ich mich, ob man so etwas nicht auch bei den Mädchen feststellen kann. Ich könnte ja meine Mutter fragen, die müßte es ja wissen, aber, nein. Ich habe auch schon in den Büchern bei uns im Wohnzimmer nachgesehen, doch ich habe nur Bahnhof verstanden. In zwei Tagen fahren wir in den Thüringer Wald zum Wandern. Ich bin gern im Gebirge, aber auch gern am Meer. Wir fahren viel ans Meer und viel ins Gebirge. Darüber bin ich sehr froh. Auch wenn wir kein Auto haben, geht es uns sehr gut, so daß wir zwei bis drei mal im Jahr in den Ferien in Urlaub fahren können. Auch wenn alle immer schimpfen, muß ich unserer Lehrerin recht geben, wenn sie sagt, daß die Menschen erst mal ihre Heimat kennen lernen sollten, bevor sie in die weite Welt hinaus getrieben werden wollen. Was ja sowieso nicht so gut geht, da ja unsere Welt nicht die weite Welt ist. Doch ich möchte sagen, uns geht es besser als den unterdrückten Staaten der dritten Welt, viel besser. Wieso dann so viele schimpfen verstehe ich nicht, doch es interessiert mich. Politik ist genau so interessant wie Geschichte und Geographie. Also habe ich meine Staatsbürgerkundelehrerin, vor ein paar Wochen, gefragt, wieso unser Staat seine Bürger nicht reisen läßt, wenn es uns doch besser geht, als dem Rest der Welt, brauche man doch keine Angst haben, daß keiner mehr wieder kommen würde. Vielmehr könnten wir doch den Rest der Welt davon überzeugen, daß unser System das bessere sei. Sie sah mich dann etwas lieb an, und meinte, so einfach geht das nicht. Und fing mit einem neuen Thema an. Ich bat sie, es mir zu erklären, da wurde sie nachdenklich und meinte, daß ich noch nicht so weit sei. Und früher oder später selbst dahinter kommen würde. Ich fand es damals etwas dünn, heute auch noch, denn ich bin schon so weit, selbst zu entscheiden, wann ich für solche Probleme so weit bin, und es jetzt wissen will, nicht früher oder später.

 

Liebes Tagebuch 8.7.1988

Gestern sind wir nun nach langer Zugfahrt, hier im Thüringer Wald, angekommen. Es ist mir nie so aufgefallen, so wie heute, daß ich von der Natur lerne. Mittag, wenn die Sonne am stärksten scheint, lege ich mich in den Schatten, höre den Vögeln und schaue den Ameisen bei ihrem Treiben zu. Man könnte meinen, in diesem Durcheinander könne nichts geschaffen werden. Doch ich habe selbst gesehen, wie alles wohl organisiert und eingespielt ist. So wie das Treiben bei uns in der Hofpause. Als Außenstehender könnte man meinen, ein wildes Durcheinander von schreienden und kreischenden Kindern vor sich zu haben. Aber dem ist nicht so. Es steckt ein lang entwickeltes und erprobtes System dahinter. Die Großen haben ihren Stammplatz und werden von den Kleinen umwühlt. Kommt ein Viertklässler zu nah in das Terrain der Großen, ist er fällig. Es läuft alles nach Gesetzen und Regeln, und die Aufsichtslehrer sind die Schiedsrichter, die sich nur dann einschalten, wenn die erzieherischen Maßnahmen der Großen gegen die Kleinen zu hart zu werden scheinen. Ansonsten lassen diese sich bei ihren gemächlichen Rundgängen nicht stören. Wie ich dann wieder ins Dorf gekommen bin, sah ich, wie zwei Jungen in meinem Alter an einem Moped herumbastelten. Da fiel mir zum ersten Mal auf, daß ich mich für diesen Scheiß überhaupt nicht interessiere. Als mir dann auch noch drei Mädchen auf der anderen Straßenseite entgegen kamen, wurde ich ganz kribbelig und versuchte meine plötzliche Nervosität, die sich in Unsicherheit ausdrückte, mit strotzender Ignoranz zu überspielen. Die beiden Jungs, waren hingegen weniger desinteressiert und tuschelten und lachten und schauten den Mädchen auffällig nach. Das ist also das, was mich von den anderen nicht abhebt und ich verstehe, ich bin also nicht völlig aus der Art geschlagen, welch erleichterndes und deprimierendes Gefühl zugleich.

 

Liebes Tagebuch 9.7.1988

In dem Haus, in dem wir untergebracht sind, wohnt auch ein Junge, er heißt Peter und ist ein Jahr älter als ich. Doch er ist total komisch. Wie soll ich es beschreiben? Er ist schlau und doch ist er ständig am lachen und rumalbern. Er nimmt nichts und niemanden ernst. Zum Anfang dachte ich, der Typ ist einer aus einer Sonderschule und wollte erst gar nichts mit ihm zu tun haben. Doch dann, ich weiß nicht wieso, habe ich mich doch mit ihm unterhalten, und er versuchte ständig mich zu verulken. Aber seine Späße waren nicht bösartig, vielmehr waren sie zwei-, manchmal so gar dreideutig. Und ich muß sagen, daß ich nicht immer alles verstand, oder durchschaute. Wieso gibt es nicht solche Jungs in meiner Schule? Er meinte, es ist nur eine Frage des Standpunktes, wenn er sich zum Beispiel auf den Kopf stelle, erscheint ihm sogar der böseste Lehrer mit einem lächelnden Gesicht. Für morgen haben wir uns verabredet, wir wollen gemeinsam wandern. Meine Eltern sind ganz froh, daß ich jemanden gefunden hab`, mit dem ich mich versteh`, weil ich ja zu Hause keine richtigen Freunde hab`. Zudem haben sie Vertrauen zu mir, daß ich keinen Mißt verbocke, wobei sie sich bei Peter nicht so sicher sind.

 

Liebes Tagebuch 11.7.1988

Welch eine herrliche Zeit. Ich wünschte mir, daß sie niemals enden würde. Peter strahlt so viel positive Energie auf mich aus, daß ich meinen könnte, Odysseus Abenteuer allein zu überstehen. Die Zeit scheint davonzufliegen, in seiner Gegenwart, und doch haben wir unser ganzes Leben Zeit. Jetzt fang ich schon so an zu reden, wie er. Die Sonne scheint seit Tagen, für die einen erbarmungslos, für uns gnadenvoll.

 

Liebes Tagebuch 13.7.1988

Gestern war ich mit Peter wieder wandern. Wir kamen uns wie zwei junge Naturforscher vor. Und wie es sich für zwei Naturforscher gehört, verließen wir den Wanderweg, um querfeldein durch den Wald zu marschieren. Er fing dann auch noch an, irgendwelchen Quatsch zu reimen. Manchmal gelang es ihm, und ein Andermal nicht. Er hörte gar nicht mehr auf, und ich, ich wollte natürlich nicht als unpoetischer Hanswurst dastehen, machte einfach mit. Anfangs hatte ich zwar leichte Startschwierigkeiten und Peter lachte über meine erbärmlichen Versuche schallend, doch mit der Zeit gelangen mir immer bessere Verse. Bei unseren lyrischen Phantastereien beschränkten wir uns natürlich nicht auf ein Thema. Es spielt doch keine Rolle, wenn man auf Hieb Trieb, auf Kampf Krampf folgen läßt. Wenn es sich nun mal reimt. Irgendwann ging uns aber die Puste aus, und wir legten uns an einen Bach ins Gras, die Sonne schien uns auf den Bauch und Peter erzählte von seinen Ferienerlebnissen. Er meint, daß gute hier bei ihm ist, daß alle vierzehn Tage neue Gäste kommen, und das zu jeder Jahreszeit. In den Ferien sind dann sogar geile Weiber und coole Typen mit, und wenn nicht, dann beschäftigt er sich eben allein. Da die Sonne nicht eine Minute Pause machte, gingen wir in den Bach. Anfangs nur mit den Füßen, aber die Kälte war bald überwunden und für ein Vollbad höchste Zeit. Er zeigte mir kleine Bachinsekten unter den Steinen und wie man sie fängt.

 

Liebes Tagebuch 14.7.1988

Es gibt hier sogar eine Disco. Ich war noch nie auf einer Disco. Und gestern abend, nach dem Abendbrot, kommt Peter zu mir und fragt, ob ich Bock hätte, mit auf die allwöchentliche Dorfdisco zu kommen. Na warum nicht, sag` ich zu mir und ging mit. Aber irgendwie hatte ich mir die ganze Geschichte anders vorgestellt. Mehr wie im Fernsehen, mit bunten Lichtern und Nebel und einer Spiegelkugel an der Decke, die sich dreht. Aber dies, das war nun wahrlich nicht der Hit. Es war der Saal von der Dorfkneipe und die Musik dröhnte aus zwei riesigen Boxen, die in zwei Ecken gestellt waren. Aber dann tanzten sogar welche. Und es wurde immer voller und auch die Tanzfläche füllte sich. Ich glaube, daß fast alle Urlauber, außer meine Eltern, die lagen schon, wie jeden Abend, in ihren Betten und lasen, und die gesamte Dorfjugend gekommen war. Und an der Bar, wie ich mir eine Club Cola holen will, steht dieses Mädchen hinter mir, und starrt mir die ganze Zeit in den Rücken. Meine Nervosität nahm zu und ich hoffte innig, daß sie mich doch ansprechen möge, weil ich ja viel zu schüchtern bin. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und drehte mich langsam um. Natürlich war meine Aktion, wie ein schweifen der Blick in die Menge, getarnt. Und als ich sie endlich in meinem Blickwinkel hatte, schaut sie natürlich rüber zur Tanzfläche. Ich drehte mich sofort wieder um und würdigte ihr keinen Blick mehr, in der Zeit, die ich an der Bar stand, denn ich war sofort an der Reihe. Ihre Augenfarbe ist tiefbraun und sie hat blondes Haar, natürlich nicht gefärbt. Ihre Augenbrauen sind dunkel und auf ihrer kleinen Nase hat sie ein paar süße Sommersprossen. Ich konnte dann den ganzen Abend kein anderes Mädchen entdecken, das mir besser gefiel. Peter hatte sie auch bemerkt und ließ kein Auge von ihr. Doch sie schien schon einen Freund zu haben, denn sie würdigte keinem Jungen einen längeren Blickkontakt als zwei Sekunden. Zu kurz für einen Flirt, meinte Peter auf dem Heimweg zu mir. Möchte wissen, wie sie heißt.

 

Liebes Tagebuch 14.7.1988

Ich komme gerade vom Dorfkonsum, und ich habe dort das Mädchen von gestern abend mit ihren Eltern getroffen. Ich weiß wie sie heißt. Renate. Und sie kommen ganz sicher aus B., was ich ohne Schwierigkeiten an ihrem Dialekt feststellen konnte. Ich bekam eine Gänsehaut, aber nicht, weil ich mich freute ihre Stimme zu hören. Nun ist mein göttliches Bild von ihr zusammengebrochen. Warum hat sie nicht den Mund halten können? Aber das schlimmste war nicht mal ihr B.-isch, nein, es war ihr Deutsch, welches mich aus den Latschen kippen ließ. Ich bin froh, daß ich gestern abend nicht den Mut hatte, sie anzusprechen.

 

Liebes Tagebuch 15.7.1988

Es passieren schon komische Dinge im Leben eines Jungen, der gerade dabei ist, ein Mann werden zu wollen. Auch heute war ich mit Peter wieder am Bach und wir badeten zuerst in der Sonne und dann im Bach. Die Geschichte mit dem B.-mädel fand er auch total gut, doch er kann die Sprache nicht so richtig ab. Er fragte mich dann, ob ich ein guter Läufer sei, und ich gab ihm zu verstehen, daß Sport nicht so mein Ding ist. Und trotzdem wollte er mit mir um die Wette laufen. Also tat ich ihm den Gefallen. So brachen wir auf, um eine geeignete Rennstrecke zu finden. Gleich darauf meinte er, er haben schon eine gefunden. Ich wollte schon eine Startlinie ziehen, da schüttelte er den Kopf. "Nicht den Weg entlang. Dort hinauf! Wer zuerst auf dem Berg ist." und zeigte mit dem Finger auf den Berg neben uns, der steil anstieg. Wir rannten los. Er hatte schon nach wenigen Metern einen kleinen Vorsprung, der von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Wir hatten gut ein Viertel hinter uns, er war zehn Meter vor mir, da passierte es. Er stolperte und fing an geradewegs nach unten zu kullern. Mir blieb nichts anderes übrig, als lachend hinterher zu schauen. Das ihm etwas hätte passieren können, fiel mir erst hinterher ein. Wie er unten angekommen war, fing er auch sofort an zu schreien. Er sprang auf und hoppelte im Schweinsgalopp in Richtung Bach. Dort angelangt, warf er sich sofort ins Wasser. Ich hatte einen Logenplatz und pinkelte mir fast in die Hose, vor Lachen. Unten am Berg angelangt, sah ich die Ursache für seine Showeinlage. Ein süßes Feld von großen Brennesseln. Und er hatte nur ein Trägerhemd, kurze Turnhose und Sandalen an. Mit dieser Entdeckung, brach ich an Ort und Stelle schreiend zusammen. Peter lag wie ein Toter im Wasser und gab stöhnende Geräusche von sich.

 

Liebes Tagebuch 17.7.1988

Gestern bin ich mit Ma und Dad auf dem Rennsteig gewesen. Welch ein Schauspiel! Von Norden näherte sich eine gewaltige Wolkenfront und im Süden war strahlend blauer Himmel. Ich kann das Erlebte nicht in Worte packen, viel zu tolpatschig bewege ich mich zwischen den Wörtern. Es herrschte eine drückende Schwüle und mit einem Mal begann der Himmel seine Schleusen zu öffnen und tränkte die Erde mit der erlösenden Nässe. Ma und Dad benahmen sich wie zwei frisch Verliebte. Doch soll dies nicht ein Wort der Empörung sein, ganz im Gegenteil. Ich bin froh, daß sie in Liebe miteinander leben, und ich das seltene Glück hab`, in solch einer Familie aufzuwachsen. Es fällt mir schwer, mich in eine zerstörte Familie hinein zu versetzen. Die Hälfte der Eltern von meinen Klassenkameraden sind geschieden. Und vor einiger Zeit, habe ich in einer Statistik gelesen, daß die DDR die meisten Scheidungen auf der Welt hat. Wenn ich dann Holger aus meiner Klasse höre, er ist der einzige, der getauft worden und auch so viel in der Kirche aktiv ist, daß dies damit zusammen hänge, daß bei uns nur sehr wenige an Gott glauben, und er die Ehen damit bestrafe. Langsam hab` ich die Schnauze gestrichen voll. Wird man denn im Leben überall und von jedem verarscht. In der Schule sagen sie nicht die Wahrheit, oder nur einen kleinen Teil und den Rest lassen sie weg, im Fernsehen sehe ich die tolle Welt des Kapitalismus, doch die Schattenseiten werden immer nur als kleine Häppchen nachgereicht. Überall auf der Welt schlagen sich die Menschen die Köpfe ein und streiten, wer denn nun den einzig wahren Gott hat, doch würde es wirklich einen Gott geben, so würde er diese ganzen Ungerechtigkeiten niemals zulassen. Es gibt also weder einen, noch viele von diesen beschissenen Göttern. Und wenn ich dies, als kleiner unwissender Tor, verstanden hab`, frag` ich mich, wie dumm muß dann der Rest der Welt doch sein.

 

Liebes Tagebuch 21.7.1988

Gestern schien noch die Sonne, als wollte sie mich verabschieden, heute, auf der Heimfahrt, gewitterte es die ganze Zeit. Auch wenn alles grau war, konnte es meine Stimmung nicht trüben. Es war ein schöner Urlaub. Gestern abend war ich mit Peter zum letzten Mal zur Disco gegangen. Diesmal kam mir alles vertraut vor, und ich genoß es, die Menschen zu beobachten. Peter und ich verstanden uns blind. Eine Kopfbewegung und wir observierten die selbe Person. Bekam diese es mit, wurde sie fast immer nervös, und wir suchten immer wieder neue Opfer. Es war ein Heidenspaß. Bis dann ein Mädchen unser Opfer war, die uns zu Opfer machte. Sie hielt nicht nur unseren Blicken stand, sie ging sogar zum Gegenangriff über. Peter war zuerst an der Reihe. Er gab sich nach kurzer Zeit geschlagen und sah zu, daß er aus ihrem Blickwinkel verschwand. Bei mir brauchte sie noch weniger Zeit. Als auch ich aufgab, lachten wir mit Peter zur gleichen Zeit los. Das Mädchen kam dann zu uns rüber und meinte "Die Verlierer müssen der Siegerin etwas zu trinken spendieren." Zum Glück sprach sie Peter und nicht mich an. Die beiden kamen, nach dem er zwei Cola-Wodka geholt hatte, sofort in`s Gespräch. Ich fühlte mich, wie das fünfte Rad am Wagen, und verpißte mich unbemerkt. Peter habe ich an dem Abend nicht mehr gesehen, das Mädchen auch nicht. Heute sind wir bei Sonnenaufgang abgereist, so daß ich mich nicht mal von ihm verabschieden konnte. Ich werde ihn nie vergessen. Vielleicht bin ich sogar etwas traurig, daß ich ihn nicht mitnehmen konnte, denn hier werde ich wieder allein sein, wie vor dem Urlaub. Ma und Dad sind auch ganz betrübt gewesen, vielleicht weil sie meine Lage verstehen. Die ganze Fahrt habe ich aus dem Zug gestarrt. Auch wenn ich durch den Regen nicht viel erkennen konnte.

 

Liebes Tagebuch 29.7.1988

Meine Hauptbeschäftigungen sind Lesen, Baden und Musik hören. Auf der einen Seite bin ich ganz froh, daß wir Ferien haben. So bleibt mir der Anblick meiner beknackten Klasse erspart, andererseits hoffe ich, daß die Schule bald wieder beginnt, damit ich wieder unter Menschen komme, und weil ich die Beschäftigung brauche. Ma drängelt andauernd, ich solle doch mal in`s Berufsberatungszentrum gehen. Doch was soll ich da? Ich weiß ja doch nicht, was ich werden soll oder will. Über die Hälfte von meiner Klasse wissen, was sie werden wollen. Bei den Mädchen sind das Verkäuferin, Friseurin, Kindergärtnerin, Lehrerin oder Tierärztin. Bei den Jungen Soldat auf Zeit, Maurer, Elektriker, Kfz-Mechaniker. Doch ich kann doch jetzt nicht entscheiden, was mir später einmal Spaß machen wird. So ein Schwachsinn. Heute Matrose, morgen Förster, übermorgen Schauspieler. Nein, ich muß noch warten. Dirk hingegen hat es gut. Seine Mutter arbeitet bei der Stadt und sein Vater ist bei der SED- und Kreisleitung. Er will zur NVA. Er sagt, "Besser kann man nicht durchkommen, sagt mein Vater." Sein Vater hat bestimmt recht, er ist ja in der Partei. Aber mein Vater ist nur ein Maler und nicht in der Partei. Und meine Mutter arbeitet in der Konservenfabrik. Wir kommen nur deshalb gut durch, weil Dad am Wochenende öfter privat Malern geht. Und außerdem finde ich Soldat sein scheiße. Würde es auf der ganzen Welt keine Soldaten geben, würde es auch keine Kriege geben. Und die Präsidenten und Staatsratsvorsitzenden müßten durch Boxkämpfe oder Würfelspiele entscheiden, wer recht hat. Aber nur weil es solche Idioten gibt, die zur Armee gehen, um gut durchzukommen, oder aus welchen Gründen auch immer, können Kriege geführt werden. Ich glaube, die USA und die UdSSR wollen gar keinen Frieden, sonst hätten sie sich schon viel früher auf ein Abschaffen ihrer Armeen geeinigt. Und die sogenannten Abrüstungsverhandlungen sind nur Ablenkungsverhandlungen.

 

Liebes Tagebuch 12.8.1988

Ich bin völlig niedergeschlagen. Merle`s "Der Tod ist mein Beruf" hat in mir wie ein Wirbelsturm getobt. Ich weiß noch nicht, welche Schäden er in mir angerichtet hat? Wie man so etwas schreiben kann, ist mir schleierhaft. Aber noch unvorstellbarer ist mir, wie man so werden kann. So kalt und unmenschlich. Ich bin sicher, daß es viele Menschen, wie Hess gegeben hat, die nicht aus Haß, viel mehr aus Pflichtbewußtsein gehandelt haben. Aber diese Tatsache macht sie in meinen Augen nicht unschuldig. Viel mehr sind sie schlimmer als die, die aus Haß gehandelt haben. Denn ihr Handeln war gefühlslos und kalt. Es sind Monster, Maschinen. Hingegen beruht der Haß der anderen auf Dummheit, Verblendung, Lug und Trug. Sicher, wären diese Menschen intelligenter gewesen, wären sie auf den ganzen Scheiß nicht reingefallen. Doch das sagt sich so leicht, aber ich kann es anders nicht sehen, da mir die Erfahrung von damals fehlt. Ich bin froh, daß ich in einer sozialistischen Republik aufwachse, ohne den Faschismus. Ich kann es gar nicht glauben, daß es in den kapitalistischen Staaten noch solche primitiven Menschen geben soll. Sicher sind die alle geistesgestört. Aber da fällt mir ein, daß es bei uns auch noch solch ähnliche Gehirnamputierte in kleinen Zahlen gibt. Sie können sich zwar nicht offen zum Faschismus bekennen, doch gibt es sie. Aber rassistische Gedanken finden sich in einer breiten Bevölkerungsgruppe. Sei`s bei den Alten oder den Jungen. Sie reden abfällig von den Negern oder Affenmenschen und meinen die Lehrlinge und Arbeiter, die aus Mocambique zu gast sind. Die Vietnamesen sind einfach nur die Schlitzaugen oder Fidschis. Was wiederum ein Beweis für deren Unwissenheit ist, da die Fidschi-Inseln überhaupt nicht zu Vietnam gehören. Als ich gestern im Konsum einkaufen war, schämte ich mich für das unfreundliche Verhalten einer Verkäuferin, die zu einem Vietnamesen, "Kannste kein richtig Deutsch?! Was willste denn?! Als wie einer das versteh’n soll! Brot?! Ich denk, daß ihr nur Reis und Fisch essen tut." sagte. Und ich dachte "Du dumme Kuh! Ich denk`, du kannst gar nicht denken, denn dafür bist du viel zu blöde." Der Mann ging beleidigt und traurig nach draußen. Die Blicke der übrigen Kunden gaben der Verkäuferin zum größten Teil Rückenhalt. Mir wurde bei diesem Szenario ganz anders. Wieso zeigen sie in der Aktuellen Kamera nicht solche Bilder?! Nein, da bekommt man nur den freundlichen Empfang der so und so vielten Gäste, die bei uns lernen dürfen wie man arbeitet, zu sehen, wie sie Blumen überreicht bekommen, gedrückt und abgeknutscht werden. Das ist doch nicht die Wahrheit, das ist doch nicht die Realität.

 

Liebes Tagebuch 14.8.1988

Ich bin heute mit dem Fahrrad eine riesige Tour gefahren. Es war so wunderbar. Die Sonne schien, überall das Grün und die zwitschernden Vögel. Ich könnte mein ganzes Leben nur mit Lesen, Spazierengehen und -fahren verbringen. An einer schönen Wiese machte ich halt, und legte mich hin.

 

Liebes Tagebuch 20.8.1988

Gestern ist Frau Eicul gestorben. Ich habe diese Frau gehaßt, sie war mir schon als Kind immer unheimlich. Wenn es je Hexen gab, dann waren sie wie sie. In meinen Augen, war sie eine Hexe. Und daß sie jeden Sonntagvormittag in die Kirche gerannt ist, war bestimmt nur Tarnung. Meine Eltern mochten sie auch nicht. Dad meinte einmal, die alte Hexe habe noch nie gelacht, nur einmal als Frau Müller, eine andere Nachbarin, betrunken, mit dem Fahrrad in die Hecke fiel. Er habe sofort eine Gänsehaut vor Schauer bekommen. Und die Hexe Babajaga aus den sowjetischen Märchenfilmen sei im Vergleich zur Eicul eine gute Fee. Die Wohnung der Alten ist bestimmt verhext. Ich bin ja sonst nett zu allen Menschen, gerade zu älteren, aber die Eicul konnte keiner in unserem Block leiden. Sie war nur am Rummeckern und Rumschreien. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir ihren Tod schon seit langer Zeit gewünscht.

 

Liebes Tagebuch 25.8.1988

Die Pilzsaison hat begonnen, auch wenn man nicht Pilze sammeln soll, wegen der Radioaktivität, sagen die im Westfernsehen, bin ich heute früh trotzdem zeitig aufgestanden und mit meinem Fahrrad losgefahren. Mein Lohn waren zwei pralle Beutel mit Steinpilzen und Maronen. Im Wald ist zur Pilzzeit immer viel los. Wenn man da nicht zeitig genug in die Spur kommt, hat man am Tag das Gefühl, man befindet sich am Totensonntag auf dem Friedhof. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen nicht auf die Warnungen aus dem Fernsehen hören. Ich fahre immer im Dunkeln los, um mit dem Sonnenaufgang im Wald zu sein. Wenn die Nebelschwaden durch die Wälder ziehen und die Vögel den Tag ankündigen, fühle ich mich fast immer ins Mittelalter zurückversetzt. Wobei man mich dann sicher als Hexenmeister verbrannt hätte. Aber wenn ich schon im Mittelalter leben würde, so würde ich bestimmt als Vogelfreier in den Wäldern leben, gegen die Reichen kämpfen und die armen Bauern beschützen, wie Robbin Hood. Ich muß selbst hin und wieder über mich lachen, wenn ich mich erwische, wie meine Phantasie mit mir durchgeht. Aber es ist schön sich solche Sachen vorzustellen und jede beliebige Heldenrolle zu übernehmen. Es ist ein Jammer, daß die Realität ganz anders aussieht. Aber man muß das schönste aus ihr herausholen.

 

Liebes Tagebuch 7.9.1988

Die Schule ist nun schon im vollem Gange und ich bin ausgelastet. In der Wohnung der Eicul ist noch niemand eingezogen, weil man erst noch alles neu machen muß. Wir haben gleich in der ersten Woche, in Sport, die 100 m auf Zeit und Zensur laufen müssen. Sport ist scheiße. Mir wird ganz übel, wenn ich mir vorstelle, daß wir in diesem Jahr eine Kampfsportart machen müssen. Boxen, Ringen oder so`n Quatsch. Die anderen Jungen sind alle schon ganz heiß d`rauf, und jeder will gegen mich kämpfen. Was für Helden! Suchen sich den Schwächsten der Klasse aus, um zu beweisen, was sie doch schon für Männer sind. Unser Sportlehrer unter stützt sie auch noch. Er kann mich nicht leiden, weil ich ein Schwächling bin. Er ist ein Arschloch - ein sadistisches dazu. Anders ist da jedoch unser Musiklehrer. Er ist gerecht, belohnt die Fleißigen und straft die Faulen, und dies unabhängig vom Können des einzelnen. Er hat mich beeindruckt, wie er Katrin und Eva die gleichen Noten gegeben hatte. Obwohl Katrin etwas besser war, weil sie fehlerfrei gesungen hatte. Er meinte, daß Eva versucht habe, die Strophen richtig zu betonen, und nicht nur einfach fehlerfrei das Lied herunter zu rattern. Katrin wollte sich zwar beim Direks beschweren, doch dafür hat sie nicht den Mut.

 

Liebes Tagebuch 10.9.1988

Wenn morgen die Welt untergehen würde, und ich hätte noch einen Wunsch frei, so würde ich mir ein Mädchen wünschen, daß mich liebt und mit dem ich in einer Umarmung zusammen sterben würde wollen. Aber die Welt geht nicht unter, doch der Wunsch bleibt. Wie albern ich es finde, wenn ich die gängige Frage höre: "Willst du mit mir geh`n?" Wenn zwei Händchen halten, küssen, drücken. Am nächsten Tag macht einer von den beiden schluß, um am Tag darauf wieder mit ihm zu gehen. Und doch, so blöd ich es finde, beneide ich sie um ihre Zweisamkeit. Auch wenn meine anders aussehen müßte. Ich habe sie nicht. Dem dicken Müller geht es bestimmt genauso wie mir. Nur frißt er seinen Kummer weg und ich, ich verschanze mich in meiner Phantasie.

 

Liebes Tagebuch 13.9.1988

Der Sommer kämpft mit letzter Kraft gegen den Herbst. Die letzten warmen Sonnenstrahlen scheinen mir auf meinen Kopf. Ich würde hier auf meiner Wiese einen Bauernhof bauen und eine riesige Mauer ringsherum errichten. Damit ich das Böse dieser Welt nicht mehr erleben muß. Schon die Kleinen bekommen früh beigebracht, daß nur die Stärke zählt. Der eine Junge aus der 6., er ist ein Schwächling und ein Versager, genau wie ich, doch er muß noch fünf Jahre diese Hölle überstehen, um dann in eine neue zu kommen. Ich hatte damals mehr Glück. Sie machen heute Jagd auf ihn, treten, schlagen auf ihn ein. Sogar Jungen, die zwei Jahre jünger sind als er. Jede Hofpause machen sie Jagd auf ihn. Und mich lähmt das Entsetzen über diese Grausamkeit. Nicht einmal die Lehrer unternehmen etwas dagegen. Wieso hilft ihm keiner? Wieso helfe ich ihm nicht?!

 

Liebes Tagebuch 15.9.1988

Heute hat sich in der Hofpause ein Wunder ereignet. Ein Mädchen aus der 7., der es wohl ging wie mir, die aber viel mehr Mut hat als alle Jungen der Schule zusammen, stellte sich schützend vor den Geschundenen. Als sie einer aus der 6. wegschubsen wollte, hatte dieser im gleichen Augenblick eine saftige Rechte auf seiner Nase zu sitzen. So daß diese sofort los blutete und er wie eine Sau, die zur Schlachtbank getrieben wird, zu schreien anfing. Einer aus der 5. wollte sich von der Seite auf die Amazone stürzen, doch hielten ihn die anderen aus den 6. und 7. Klassen zurück. Die Lehrer mischten sich auch dieses Mal nicht ein und nahmen aus einiger Entfernung Notiz von dem Ereignis. Sogleich stieg ein Glücksgefühl in mir auf. Das Mädchen ließ die Meute stehen und ging. Die ganze Klasse war in heller Aufruhr, und wertete das Geschehene im Klassenraum aus. Meist wurde sich nur lustig gemacht und ich enthielt mich jedem Kommentar, sie würden eh nichts von dem verstehen, was ich sagen würde. Genauso gut könnte man einem Hirnamputierten die Relativitätstheorie erklären. Mit dem Unterschied, daß der Hirnamputierte sich die Mühe machen würde, das ihm Erzählte, verstehen zu wollen.

 

Liebes Tagebuch 20.9.1988

Nächste Woche ist Gruppenrats- und FDJ-Ratswahl. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß man sich in der Unterstufe um einen Posten im Gruppenrat gestritten hat. Doch nun will keiner mehr den Scheiß machen. So wird, wie schon im vorigen Jahr, versucht werden eine Diskussion in`s Leben zu rufen, die lebendig stirbt, oder besser tot geboren wird und weil sich nichts tut, bleibt alles beim alten. Es gibt ja auch wichtigere Dinge im Leben eines Jugendlichen. Jana hat es auf Ingo aus der 10. abgesehen. Sie ist die einzige aus unserer Klasse, darauf verwette ich mein linkes Ohr, die keine Jungfrau mehr ist. Doch sie ist dumm, richtig dumm. Aber, und das spricht für sie, sie ist o.k., daß heißt, sie ist nicht falsch und auch nicht hintenrum. Sie sagt gerade heraus, was sie denkt, auch wenn ihr das nötige Feingefühl an manchen Stellen fehlt. Dirk findet sie irre geil, wie er mir letztens steckte. Ich nehme an, er wird nicht der einzige in unserer Klasse sein, dem es so geht, denn sie sieht ja auch ziemlich scharf aus. Doch, wo bleibt da die Liebe? Diese Frage stellen sich viele in meinem Alter, wie ich dem "Neuen Leben" entnehmen kann. Und wenn mal die "Bravo", in der Klasse rum geht, was ja gar nicht so selten vorkommt, auch wenn sie schon ein halbes oder ganzes Jahr alt ist, muß ich sagen, daß die westdeutschen Jugendlichen wesentlich zurückgebliebener sind als wir in der DDR. Also die Fragen bei Dr. Sommer sind echt hirnrissig. "Kann ich schwanger werden, weil mich mein Freund an der Brust gestreichelt hat? / Er will, daß ich seinen Penis in den Mund nehme. Das ist doch nicht normal?! / Mein Glied ist nur elf Zentimeter lang, ist das normal?" Wer so dumm fragt, mit 14 oder 15 Jahren, gehört meiner Meinung in ein Kloster und sollte an die unbefleckte Empfängnis glauben und niemals aufgeklärt werden.

 

Liebes Tagebuch 24.9.1988

Ich habe heute etwas sehr trauriges erlebt. Nach der Schule will ich zum Park, unterwegs sehe ich einen Mann, der schon etwas älter ist, im Dreck liegen und neben ihm sein Fahrrad. Ich gehe zu ihm hin, denn alle anderen Menschen tun so, als würden sie ihn nicht sehen und fahren oder gehen vorbei. Ich spreche ihn an. Er reagiert nicht. Sein Gesicht ist ganz aufgeschabt und seine Nase blutig. Ich beuge mich zu ihm nach unten, spreche noch mal. Da öffnet er seine Augen, die blutunterlaufen sind und sagt stöhnend: "Hilf mir bitte auf." Da reichte ich ihm die Hand, er stank pervers nach Alk, und versuchte ihn nach oben zu ziehen. Nach einem fünfminütigen Kampf war es mir dann schließlich gelungen, aber ich weiß nicht mehr wie. Er bat mich noch um sein Rad, das ich ihm auch gab. Und auf sein Rad gestützt stolperte er im Zickzack-Kurs davon. Die ganze Zeit ging mir der Mann nicht mehr aus dem Kopf. Wie lang mag er schon dagelegen haben? Warum hatte ihm niemand geholfen? Warum trinkt man überhaupt, daß man so hilflos wird? Dad sagt, daß die meisten Menschen aus Kummer saufen. Irgendwann habe ich gelesen, daß die DDR den größten pro Kopfverbrauch an Spirituosen auf der Welt hat. Demzufolge hätten wir ja die meisten unglücklichen Menschen. Doch ich würde nie anfangen zu saufen. Das Zeug schmeckt doch gar nicht. Und ich habe schließlich auch meinen Kummer. Doch wo würden wir denn hinkommen, wenn jeder gleich zur Flasche greifen würde?!

 

Liebes Tagebuch 30.9.1988

Eben bin ich mit "Werner Holt" fertiggeworden, es ist ein schönes Buch, auch wenn wir es noch in diesem Schuljahr behandeln werden. Denn die Schulbücher gefallen mir sonst selten. Doch gab mir das Buch neue Rätsel auf. Holt scheint mir ganz klug zu sein, wie konnte er dann ein Nazi sein? Oder war er gar kein Nazi, und glaubte nur einer sein zu müssen? Aber aus welchen Gründen denn? Wenn ich es mir genau überlege, haben wir heute ein gleiches Bild. Wir leben in einer sozialistischen Republik, aber wieviele von den Menschen in der DDR sind wirklich Sozialisten, oder gar Kommunisten? Ich bin einer, aber die Anderen in meiner Klasse, jedenfalls der größte Teil von ihnen, denen ist das doch scheißegal. Die interessieren sich doch gar nicht für Politik. Wieso eigentlich? Sind sie zu dumm für Politik? Micha meint, wieso solle man sich über Sachen den Kopf zerbrechen, wo eh von oben entschieden wird, was falsch und richtig, was wahr und Lüge ist. Sein Argument klingt logisch, aber ich kann mich nicht damit abfinden, nicht zufriedengeben.

 

Liebes Tagebuch 3.10.1988

Ich hatte letzte Nacht wieder diesen Alptraum, den ich hin und wieder hab`. Ich laufe als kleiner Junge weinend in der Nacht an einem Drahtzaun entlang. Links und rechts vom Zaun schlagen unentwegt Bomben ein, und ich höre Menschen schreien. Bis ich eine Bombe ganz langsam auf mich zukommen sehe und sie mich trifft. Dann wache ich schweißgebadet und weinend auf. Ich habe diesen Traum schon seit Jahren, doch ich habe nie jemanden davon erzählt. Nicht einmal Dad als er einmal von meinen Schreien gerufen in mein Zimmer kam, um mich zu wecken und mich in seine Arme nahm. Ich denke oft an den Krieg und an das viele Unrecht, was Menschen anderen Menschen, die sie nicht einmal kannten, angetan haben. Und ich fühle mich oft schuldig, dabei habe ich gar keinen Grund. Doch wenn ich Bilder und Berichte von Zeugen, Opfern sehe, die es schafften die höllischen Qualen in den deutschen Konzentrationslagern zu überleben, weiß ich, wir Deutschen waren es.

 

Liebes Tagebuch 2.12.1988

Die Zeit vergeht wie im Fluge. In drei Wochen ist schon wieder Weihnachten. Ich möcht gar nicht d`ran denken. Sogar in der Klasse hat sich weihnachtliche Stimmung breitgemacht. Ich werde nicht zu unserer Weihnachtsfeier gehen. Ma nervt immer noch wegen meiner beruflichen Zukunft. Es ödet mich alles irgendwie an und ich weiß nicht wieso. Aber eines weiß ich, daß ich den Winter nicht mag, um seiner kurzen Tagen wegen. Es wäre anders wenn wenigstens Schnee liegen würde, aber alles ist grau, so dunkel, trostlos.

 

Liebes Tagebuch 8.12.1988

Ich war heute mit Ma einkaufen. Welch ein Horror. Wir wollten mein Weihnachtsgeschenk kaufen, und da ich eh neue Wintersachen brauche, nicht daß ich die alten nicht mehr anziehen würde, aber sie passen nicht mehr, sollten die Sachen, die gleichzeitig meine Weihnachtsgeschenke werden sollten, mal was für gut, also etwas besseres sein. Ich lege ja nun wirklich keinen Wert auf ein modisches Aussehen, aber die Klamotten von der Stange sind echt Asche. Die super teuren aus dem Exquisite müssen es aber auch nicht sein. Und dann hat meine Ma noch so einen total schrägen Geschmack, den ich nicht gerade gut finde. Also wurde die Wahl verdammt eng, zumal unsere sozialistische Produktion sowieso nicht eine breite Warenpalette anzubieten hat, gerade was Sachen angeht. Als ich dann endlich eine Hose mit passenden Schuhen und Jacke gefunden hatte, die mir halbwegs gefielen, da leierte Ma nur mit den Augen und meinte ich sehe aus wie der Vollstrecker von Donner Lippchen, nur die Segelohren und der Zylinder würden fehlen. Was ich als Kompliment auffaßte. Denn es beweist doch meinen guten Geschmack, wenn ich mir Sachen aussuche, die andere Leute sogar im Fernsehen anziehen, zumal es sich um Westfernsehen handelt. Im Prinzip stelle ich doch gar nicht so hohe Ansprüche, doch will ich weder durch schrille Klamotten auffallen, noch in den Einheitsuniformen Einer von Tausenden sein. Sachen sind doch in erster Linie zum Warmhalten und Wohlfühlen da. Und sie spiegeln den Menschen, der sie trägt wider. Daher kommen weder Boxer-Jeans, noch Kordhosen für mich in Frage, auch wenn sie noch so bequem sein mögen. Sie passen einfach nicht zu mir. Die zu teuren Sachen lehne ich auch ab, weil sie Prunk und Verschwendung darstellen, was ich zutiefst verachte. Und bunte Sachen würden überhaupt nicht mein wahres Wesen, das nicht sagt: "Achtung, jetzt komm ich!" sondern: "Pscht, nicht so laut.", widerspiegeln.

 

Liebes Tagebuch 12.12.1988

Dad kam heute von der Arbeit und sagte, daß ihn Rötschels aus K. angerufen hätten, daß wir über die Feiertage herzlich eingeladen seien. Bei Dad würde es mit dem Urlaub klappen und Ma hat ja sowieso Urlaub. Ich bin hin und weg. So ist es beschlossene Sache, daß wir die Einladung freudig annehmen. Dad will morgen gleich von Arbeit aus anrufen, da wir, wie die meisten Menschen in der DDR, kein Telefon haben. Nicht nur daß mir der Anblick des Weihnachtsbaumes am Platz erspart bleibt, meine Freude, daß ich endlich wieder aus diesem Kaff raus komme ist unbegrenzt. Und die alten Rötschels sind ja lustige Menschen. Mit Ma habe ich gestern zwei große Pakete für die Opfer des Kaukasus gepackt. Als ich die Bilder im Fernsehen sah und ich die Zahl der Toten hörte, blieb mir fast die Luft weg. Wir müssen ihnen doch helfen, es sind doch unsere Freunde. Dad meinte, daß sie "Glück" hatten, daß das Beben nicht im Sommer passiert ist, weil sonst die vielen Toten, die nicht alle auf einmal geborgen werden können, zu sich rasend ausbreitende Epidemien führen würden.

 

Liebes Tagebuch 22.12.1988

Morgen fahren wir los, wie immer mit dem Zug. Ich kann es kaum erwarten endlich dort zu sein. Das graue Wetter und die aufgestochenen Menschen, mit dem dringenden Zwang alles was sie bekommen können kaufen zu müssen, machen mir den Abschied nicht gerade schwer. Jeder der bis jetzt kein Geschenk hat, versucht in dem minimalen Wirrwarr noch eine Kleinigkeit zu erhaschen, es scheint ein innerer Kaufzwang zu herrschen.

 

Liebes Tagebuch 23.12.1988

Es war heute ein langer schöner Tag, der, würde es nach mir gehen, ruhig noch hätte länger sein können. Die Fahrt verlief absolut ruhig, abgesehen davon, daß unser Zug von B. nach R. eine Stunde Verspätung hatte, was aber keinem unserer Familie gestört hat, weil wir beschäftigt waren und außerdem sind wir es ja gewohnt, wir fahren ja schließlich immer mit der Deutschen Reichsbahn. So alt wie ihr Name ist, so alt sind auch ihre Fahrtzeiten. Wenn ich nicht gerade in meinem Buch gelesen hab, was mich sehr fesselt, von Martin Selber "König Lustick und sein Bauer", löste ich mit Dad viele Kreuzworträtsel. In R. hatten wir dann eine Stunde Aufenthalt, durch unsere Verspätung verursacht, und setzten uns in die total überfüllte Mitropa. In K. angekommen bezogen wir unsere Zimmer und meine Eltern begaben sich zu unseren Gastgebern. Mich zog es jedoch sofort zum Meer. Es war fast spiegelglatt, was sehr selten zu dieser Jahreszeit sein soll. Durch die Windstille spürte ich auch kaum die Kälte und lief im Dunkeln am Strand entlang. Meine Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf. Es schien, als würden sie mit Lichtgeschwindigkeit durch meine Hirnwindungen sausen, angetrieben von der Ruhe und der salzhaltigen Luft. Ich konnte gar nicht mehr genug bekommen, bis mich der Hunger irgendwann nach Hause trieb. Ich setzte mich noch hoch zu den Alten und lauscht ihren Gesprächen. Es waren gar nicht die Themen an sich, die mich fesselten, nein, ich saugte förmlich den Dialekt der Nordmenschen auf, er versetzte mich in eine andere Welt.

 

Liebes Tagebuch 27.12.1988

Ich bin froh, daß die Festlichkeiten vorbei sind. Obwohl weder unsere Gastgeber, noch meine Eltern einen Aufriß gemacht haben, löst Weihnachten in mir ein Mischgefühl von Bedrückung, Abneigung, Scheu und Unbehagen aus. Wir waren bis heute jeden Tag am Strand stundenlang spazieren. Rötschels waren immer mit. Sie sind so nett, beide sind schon Rentner, er war Lehrer und sie Krankenschwester, haben keine Kinder und sind so drollig, daß ich sie mir als meine Großeltern wünschen würde. Doch ich habe keine mehr, und sie sind es nicht. Vater und Herr Rötschel reden sehr oft über Politik, und ich höre den beiden dann unauffällig zu. Sie streiten fast nie und sind so gut wie immer einer Meinung. Es klingt alles so logisch, was sie sagen, daß ich an manchen Stellen am liebsten losbrüllen möchte "Warum macht ihr denn nichts dagegen!?". Doch ich schweige, denn ich weiß, daß hier in diesem Staat, wie auch in allen Staaten dieser Welt nichts gerecht und demokratisch zugeht, und sie nicht nur ihren Kopf riskieren würden, viel mehr verlieren, wenn sie ihre Meinung der Öffentlichkeit zukommen lassen würden. So nehme ich alles in mich auf. Und es gärt in mir, wie in einem Weinballon, der noch lange stehen muß, denn der Wein in ihm hat noch lange nicht die Reife erreicht. Und sie sagen, es brodele aber auch schon lange in der Bevölkerung, daß es in nicht mehr allzu langer Zeit etwas passieren müsse. Unsere Freunde machen es uns ja vor, doch sie haben ja auch Glück, daß sie den Gorbi bekommen haben, und wir müssen auf unseren schon längst antiquierten Tattergreisen sitzen bleiben.

 

Liebes Tagebuch 29.12.1988

Es gibt wieder was zu sehen in den Städten. Menschenschlangen aus den Drogerien, die sich, wie lange Schwänze, um die Geschäfte fast herumwickeln könnten. Es gibt Knallzeug zu kaufen. Die beknackteste Erfindung seit es Silvester gibt. Wieviel Geld in sinnloser Menge verfeuert wird, ohne daß man etwas wirkliches damit erzielt. So sehr ich auch Alk und Tabak ablehne, so weiß ich doch, daß bei deren Konsum bei den Konsumenten eine Veränderung ihres Zustandes erreicht wird. Doch was verursachen Raketen und Blitzknaller?? Wo liegt da der Sinn?? Also an Geister glaub ich nicht, und ich kenne auch keinen, und ich kenne auch niemanden, der einen kennt, oder an welche glaubt. Wenn oder was will man also verjagen, bezwecken? Vielleicht komme ich ja dahinter wenn ich einmal groß bin.

 

Liebes Tagebuch 1.1.1989

Morgen fahren wir schon nach Hause. Wie gern würde ich noch hier bleiben, an diesem wunderschönen Ort. Die lieben Leute, das Meer, die Spaziergänge, die klare Luft, einfach alles werde ich vermissen. Der gestrige Silvesterabend war ein schöner Höhepunkt. Wir machten zu fünft Fondue und erzählten und lachten unentwegt. Nie gingen die Gespräche aus, obwohl wir jeden Tag viel Zeit miteinander verbracht hatten. Wie werde ich die gemeinsamen Abende vermissen. Eine tiefe Traurigkeit hat mich ergriffen und so werde ich jetzt die letzten hellen Stunden am Meer verbringen.

 

Liebes Tagebuch 3.2.1989

Heute gab es die Halbjahreszeugnisse, ich bin zufrieden. Es ist ein Glück, daß ich mich nicht unter den Zwang setze, der Klassenbeste sein zu müssen. Es wäre ein nicht auszuhaltender Druck. Doch es gibt sie. Die da glauben ständig und überall im Mittelpunkt stehen zu müssen. Sei es mit Wissen, oder mit ihrem Verhalten. Dieses aufgesetzte Freundlichsein, und hintenrum wird intrigiert, hergezogen und lustig gemacht. Da wird, wer weiß wie cool getan, um seinem Umfeld zu zeigen wie toll man doch ist. Welch armseliges Verhalten. Wenn ich mir so ansehe, wie andere Jungen mit aller Macht versuchen die Aufmerksamkeit eines Mädchens auf sich zu ziehen, und wie lächerlich sie sich dabei machen, frage ich mich, welchen Sinn macht das ganze? Doch auf der anderen Seite haben sie damit Erfolg. Sie haben eine Freundin und ich nicht. Aber vielleicht sollte ich es weniger als einen Erfolg sehen, wenn ein Junge ein Mädchen aufreißen kann, daß gerade mal ihren Namen schreiben kann und im Kreuzworträtsel "Fux" hinein schreibt, wenn nach einem heimischen Wildtier mit drei Buchstaben gefragt ist. Doch wo soll ich ein Mädchen kennenlernen, was mir gefällt, im Sinne von - zu mir passen? Nun haben wir erst mal wieder Ferien. Rötschels haben mich zu sich eingeladen. Ich werde allein fahren, weil Ma und Dad keinen Urlaub nehmen können. Ich hätte zwar von der Schule aus in den Harz ins Ferienlager fahren können, doch obwohl mich die Tatsache gereizt hat, daß auch Mädchen dort sein würden, überwarf ich schnell meine Vorstellungen und Phantasien, denn es wären nur Mädchen aus unserer Schule mit gewesen. Und da mir die Rötschels ans Herz gewachsen sind, war es doch eine sehr leicht Entscheidung. So fahre ich für die gesamten drei Wochen zu ihnen.

 

Liebes Tagebuch 7.2.1989

Es stürmt mächtig, die Wellen rollen mit ihren weißen Kronen ans Land und schlucken ständig ein neues Stück Strand. Der Wind bläst kalt und scharf aus Norden. Ich komme mir wie ein einsamer Künstler vor, wenn ich allein am Strand entlanggehe. Es sind viele Urlauber hier. Ich beobachte sie, studiere ihre Gesichter, ihr Verhalten und sehe mich an ihren Töchtern satt. Einige erwidern meinen Blick, andere scheuen ihn und wieder andere ignorieren ihn sogar. Ich glaube in eine ganz andere Rolle geschlüpft zu sein. Ich dachte immer ein zurückhaltender Junge zu sein, doch was ich nun in mir entdecke ist das Eldorado meiner Seele. Ich habe ein nie da gewesenes Selbstbewußtsein entwickelt, daß es mich angewidert hätte, wenn ich es vor einem halben Jahr bekommen hätte. Ich kann aber nicht sagen, ob es mir wirklich gefällt.

 

Liebes Tagebuch 13.2.1989

Ich komme mir immer mehr vor wie ein wissenshungriger Künstler. Wissenshungrig, wenn ich in meinem Zimmer sitze und lerne, oder lese. Literatur spielt eine so große Rolle in meinem Leben, daß ich sie nie missen möchte. Künstler, wenn ich den Strand und die Promenaden an all den ganzen Urlaubern entlang laufe. Sie beachten mich vielleicht nicht einmal, vielleicht ein paar, aber das spielt ja gar keine Rolle. Wichtig ist doch, was mir durch meinen Kopf geht. Ich dichte und stelle mir die absurdesten Gedanken vor. Wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn mich jetzt irgend so ein Filmmensch entdecken würde und mich als Hauptdarsteller für den Romeo haben wolle. Ich würde mir die Seele aus dem Leib spielen. Ich würde ein bekannter Schauspieler werden und an meinem Ruhm zerbrechen. Die ganze Welt würde dann um mich trauern. All meine Mitschüler würden dann an mein Grab kommen und ich würde sie von unten auslachen, diese Narren. Und unendlich viele Mädchen werden Selbstmordversuche starten, natürlich so inszeniert, daß sie sicher gehen können, daß sie, bevor sie wirklich aus dem Leben scheiden, entdeckt werden würden. Kritiker werden dann über mich herziehen und meinen, daß ich zum Leben zu feige gewesen wäre, und daß dies eine Flucht vor meinen Problemen gewesen sei. Und in einem schriftlichen Nachlaß werde ich ihnen vorwerfen, daß sie zu feige für eine solche Tat, wie ich sie begangen hab`, seien. Und dem Tod nicht mutig entgegentreten, sondern vor ihm winseln wie Hunde vor der Peitsche. Und daß sie sich vor ihm verstecken, hinter ihren geschriebenen Heucheleien und Beleidigungen. Denn es sei keine feige Flucht, wenn man keinen Sinn mehr in seinem Leben sehe, und einem das Herz zu zerreißen droht, weil man merkt, daß alles nur ein Schein, als ein Sein ist, und man merkt, daß man doch nichts ändern kann.

 

Liebes Tagebuch 17.2.1989

Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß ich zur EOS gehen sollte. Denn nur so kann ich noch Zeit gewinnen. Meine Noten dürften ausreichen. Was danach werden soll weiß ich noch nicht. Es kümmert mich auch noch nicht. Ich werde, wenn sie mir die Antwort abringen, was ich denn mal werden wolle, "Lehrer" sagen. Ich hoffe, daß ich sie damit ruhigstellen kann. Ich glaube dahinter gekommen zu sein, warum die Menschen sich so wichtig nehmen. Weil sie glauben, daß sie eigentlich unwichtig sind und sich unbedingt das Gegenteil beweisen müssen. Um jeden Preis.

 

Liebes Tagebuch 23.2.1989

Herr Rötschel hat ein tiefes Brandzeichen in mich gesetzt. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, er hat viele Unklarheiten beseitigt, und doch hat er immer neue Fragen in mir geweckt, die ich jedoch allein beantworten muß. So wußte ich nicht recht, wie ich mit dem Thema Afghanistan umgehen sollte. Er meinte, daß die Sowjetunion dort nichts verloren hätte. Und daß es ihr ganz recht geschieht, diese Pleite nach Hause zu tragen. Es sei schließlich der erste Krieg, den sie zwar nicht verloren, aber auf gar keinem Fall gewonnen haben. Denn es war ein politischer Eroberungskrieg, diese seien immer schlecht, und kein Verteidigungskrieg, wie in den Jahrzehnten zuvor, wo sie schließlich sämtliche Feinde der Vergangenheit aus ihrem Land geprügelt haben, wie Napoleon, Wilhelm und Adolf. Meine beiden Gastgeber haben mich behandelt als wäre ich ihr Enkel. Ich konnte mich den einen Abend nicht mehr zusammenreißen und gab der netten alten Frau einen sanften Gutenacht-Kuß auf ihre Wange und sie wurde ganz rot vor Verlegenheit. Sie hatte wohl nicht mit einer solchen Kühnheit von mir gerechnet. Ich allerdings auch nicht.

 

Liebes Tagebuch 26.3.1989

Warum treffen die riesigen Unglücke immer die Wehrlosen und Schwachen? Wieder mal ist so ein verfluchter Supertanker krachengegangen und ein Naturparadies ist nicht bedroht, es ist zerstört. Wenn ein solches Unglück nicht gerade die armen Menschen trifft, dann wenigsten die Natur, aber nie die raffgierigen Kapitalisten. Und sie kommen sowieso nicht vor Gericht, immer nur die Kleinen. Und der entstandene Schaden? Ich meine nicht das verlorengegangene, teure, wert volle Öl, sondern die billige Natur. Wer will denn sagen, was die Natur wert ist?! Ist sie nicht das wertvollste Gut, was wir haben, ist sie nicht unbezahlbar?

 

Liebes Tagebuch 3.5.1989

Es ist ein so großes Unrecht, Diez ist nicht dazwischengegangen, dieser Sadist. Wie kann ein solches Monstrum Lehrer werden?! Harald hat sich einen Spaß daraus gemacht, daß er der Auserwählte war, der gegen mich boxen durfte. So hatte Diez Mitleid mit mir und hat mich nicht gegen die halbe Klasse boxen lassen, die wollten alle, sondern gab mir den kräftigsten Dümmsten. Diez wußte, daß der nicht überlegt, was er anstellt, sondern alles animalisch geschieht, Gesetz des Stärkeren. Der weiß noch nicht mal, wo Ungarn liegt, geschweige, was es bedeutet, daß sie dort die Grenzen geöffnet haben.

 

Liebes Tagebuch 30.5.1989

Heute ist Dienstag und wir sind im Wehrlager, was zwei Wochen dauern soll, angekommen. Was für ein Theater. In unserem Alter Krieg zu spielen und uns mit den Märchen von der Bedrohung aus dem Westen zu langweilen. Wir sind in einem betriebseigenen Ferienlager untergebracht. Jungen von verschiedenen Schulen und Städten. Einige sehen es als eine Art der Vorbereitung auf ihre Kariere bei der NVA, andere betrachten es als eine Mischung aus Lager für Pfadfinder und langweiliges Ferienlager ohne Mädchen. Für mich ist es das letztere. Oder ehr das Letzte. Ich sehe da einfach keinen Sinn drin. Warum lassen sie nicht die Jungen, die dazu nicht bereit sind, zu Hause, um dort mit den Mädchen humanitäre Hilfe zu lernen? Es geht mir ja nicht darum, daß ich bei den Mädchen bleiben will, bei denen aus meiner Klasse sowieso nicht, aber um die Sache an sich. Was macht das für ein Unterschied, ob ich nun mit anderen Kindern durch den Wald robbe und mit Stöckchen schiessen spiele, oder ob ich mir in der Nase bohre?

 

Liebes Tagebuch 6.6.1989

Einige scheinen sich hier gut eingelebt zu haben. Unter den Duschen werden Männerträume wahr. Die Verpflegung erinnert an ein Inter Hotel, grüne Wurst und so. Die Manöver lassen Pionierherzen und das des Lagerkommandanten höher schlagen. Und auch sonst ist hier alles wie man es sich vorstellt. Nach dem Morgenappell wird die Post verteilt. Einige erhalten gar keine, andere von Mama und die richtigen Soldaten von ihren Lotten. Man kümmert sich hier aber nicht nur um unser körperliches Wohl, indem man Tischtennis-, Volleyball- und Fußballturniere durchführt, sonder auch unser Geist wird gebildet. Wie uns in wenigen Minuten die Raketen unserer Feinde erreichen können und wie wir ein paar Tage in den Bunkern überleben können, um dann draufzugehen. Wie man anhand der unterschiedlichen Längen des Sirenengeheuls unterscheiden kann, ob man von atomaren, biologischen, chemischen, oder konventionellen Bomben sterben wird. Wie toll doch die NVA ist und vor allen Dingen, wie wichtig sie sich selbst nimmt. Hätte man mir den Quatsch vor einem Jahr erzählt, so hätte ich ihn sicher geglaubt und für mein ganzes Leben verpflichtet. Aber sie kommen zu spät, denn ich habe mir erlaubt, schon meine eigene Meinung zu bilden. Was allerdings nicht ganz ungefährlich ist. Sie müssen wohl, um solche Misserfolge zu vermeiden, das Lager wohl oder übel mindestens eine Klassenstufe nach unten ziehen, denn dort ist man in einem Alter, wo man noch eher an den Weihnachtsmann glaubt. Was ich jedoch nicht verstehe, ist die Tatsache, wie die Unteroffiziersanwärter, die uns betreuen, den Blödsinn, den sie uns erzählen, selbst glauben können. Vielleicht hat man sie ja hypnotisiert, oder unter Drogen gesetzt.

 

Liebes Tagebuch 10.6.1989

Ich habe mich freiwillig zur Küchenarbeit gemeldet. Ich muß zwar den ganzen Tag in der Küche abhängen, aber dafür brauche ich nicht in der Scheiße rumkriechen. Heute habe ich drei Stunden, mit Kai aus einer anderen Gruppe, Kartoffeln geschält. Es mag zwar hart klingen, aber wir machen uns nicht tot dabei. Und er erzählt einen schmutzigen Witz nach dem anderen. In wenigen Minuten muß ich wieder los, das Abendbrot ausgeben. Ich will endlich wieder nach Hause, nicht weil ich Heimweh habe, sondern weil ich die ganze Aktion als Zeitvergeudung betrachte. Das einzige, was ich wieder mit nach Haus nehmen werde, ist die Tatsache, daß ich das richtige Buch mitgenommen hatte. Ein besseres als "Im Westen nichts Neues" hätte ich nicht wählen können. Es übertrifft Holt um Längen, zeigt die Sinnlosigkeit und Brutalität eines jeden Krieges. Soldaten sind die bösen Werkzeuge der Regierungen, die unter Machtwahn leiden, die letzte Hoffnung der Regierungen, die von den Wahnsinnigen angegriffen werden. Soldaten sind Opfer und gleichzeitig Täter am Ende der Schnur.

 

Liebes Tagebuch 12.6.1989

Das erste, was ich im Fernsehen sehen muß, ist die verfluchte Algenpest in der Adria. Die größte Sorge, die die Menschen dort haben, ist, daß der Touristenstrom ausbleiben könnte. Sicher, sie leben von den Touristen, aber leben sie nicht noch viel mehr vom Meer? Sie behandeln es wie eine Kloake, die gesamte Scheiße wird hineingekippt, zum größten Teil doch ungereinigt, Haushalte, Fabriken, einfach alle. Und die dreckigen Flüsse, von der Landwirt-schaft überdüngt, sie tun ihr übriges dazu. Wenn man das Meer wie eine Klärgrube behandelt, dann darf man sich doch nicht wundern, daß es bald stinken und aussehen wird, wie eine. Und ist die Katastrophe erst einmal da, wie vor einem Jahr das große Robbensterben in der Nordsee, verursacht durch eine Algenpest, verursacht durch Menschenhand, dann werden die Schuldigen und die Ursachen gesucht. Und später vergessen.

 

Liebes Tagebuch 28.6.1989

Das Schuljahr ist vorbei. Endlich! Lang hat es gedauert. Ich bin froh die ganzen Fratzen fünf Wochen nicht mehr sehen zu müssen. Bis wir ins Lager für Arbeit und Erholung fahren müssen. Aber erst mal habe ich Ruhe vor ihnen. Warum bin ich nur so anders als sie? Uns trennen Welten. Ist die Rede von einem schönen Urlaub, dann meinen sie:

- den ganzen Tag am Strand in der Sonne liegen

- in teuren Gaststätten essen gehen

- jeden Abend auf Disco rennen

- ins Ausland zukommen

- tolle Klamotten gekauft zu haben,

und ich denke an:

- Sonnenaufgänge und Untergänge

- Gewitter im Gebirge

- lange Spaziergänge im Wald, in den Bergen, am Strand

- Tiere und Pflanzen beobachten

- nette Menschen kennenlernen

- Abende am Lagerfeuer mit Gitarrenmusik.

Ich gebe mir ja Mühe sie zu verstehen, auch wenn sie nicht sehr groß ist, doch sie versuchen nicht einmal mich zu verstehen. An meinen Eltern kann es doch nicht liegen. Ich kenne Eltern, die sind wesentlich durchgeknallter als meine, und deren Kinder sind normaler als normal, stinknormal.

 

Liebes Tagebuch 3.8.1989

Es ist komisch, aber ich betrachte die Tatsache, daß angeblich nur jede zweite Familie aus ihrem Ungarnurlaub zurückkommen soll, ziemlich nüchtern. Es beunruhigt mich in keinster Weise. Soll man die doch gehen lassen. Es ist doch das Recht des Menschen frei zu entscheiden, wohin er gehen will. Mit den anderen, denen, die hiergeblieben sind, kann man doch viel besser, einfacher leben. Der Wohnungsmangel ist so viel einfacher zu beseitigen. In den Betrieben müssen die Arbeiter nicht mehr rumsitzen, weil es nichts zu tun gibt. Endlich ist wieder genügend Arbeit für alle da. Man braucht nicht mehr so lange auf ein Auto warten. Wenn doch alles wirklich nur so einfach wäre. Dad meint, das Benzin sei schon am auslaufen, es fehle nur noch der brennende Streichholz. Ich habe Angst vor dem, was er gesagt hat. Es klingt nach Krieg, oder zumindest so etwas in der Art. Das Komische ist nur, das unsere Führung nichts unternimmt. Selbst in der Aktuellen Kamera sind die gegenwärtigen Entwicklungen nur Randbemerkungen.

 

Liebes Tagebuch 10.8.1989

Seit zwei Tagen sind wir hier in diesem Arbeitslager mit Erholung. Der Lohn macht mich fast reich, zwei Mark die Stunde. Unsere Arbeit: Kabelschächte ausheben. Achtzig Zentimeter tief und dreißig breit, zu einer Eigenheimsiedlung, fünf Stunden am Tag. Da ich nicht sehr kräftig gebaut bin, fällt es bei mir nicht so auf, daß ich mich nicht überarbeite. Wenn ich ein besonderes Fundstück beim Graben entdecke, laß ich mir bei der Untersuchung des selbigen genügend Zeit. Es gibt auch genügend faszinierende Tiere und Pflanzen zu beobachten, die es wert sind, die Arbeit für ein, zwei Viertelstunden ruhen zu lassen. Außerdem habe ich schon zwei Blasen an jeder Hand. Wenn sie uns doch wenigstens vernünftig bezahlen würden, oder eine halbwegs sinnvollere Beschäftigung geben würden, ich verstehe das nicht, die brauchen sich doch nicht zu wundern, daß ihnen die besten Leute abhauen. Herr Baum meinte zu mir, daß zum größten Teil studierte Menschen rübergehen, weil sie dort besser bezahlt würden, und somit einen höheren Lebensstandard zu erwarten hätten. Auf meine Frage, ob er auch gehen wolle, lächelte er und meinte, er werde uns als Musiklehrer erhalten bleiben. Außerdem gäbe es dort genügend Lehrer. Es wäre etwas anderes, wenn er Arzt, oder Ingenieur wäre. Ist er aber nicht.

 

Liebes Tagebuch 14.8.1989

Was habe ich denn hier verloren? Vormittags schuften wir mehr oder minder hart für einen Hungerlohn. Nachmittags fahren wir an einen kleinen See, wenn das Wetter es zuläßt, und wenn nicht, dann bleiben wir im Objekt und spielen Tischtennis, oder Fußball. Oder wir hängen einfach ab. Nachts werden dann Wanderungen unternommen. Ein paar Jungen wandern zu den Mädchenzimmern und umgedreht. Ich komme mir vor wie ein unsichtbarer Beobachter, der alle Aktivitäten teilnahmslos registriert. Der hofft, daß dieser Traum endlich endet. Ich kann mich doch mit niemanden von meinen Klassenkameraden unterhalten. Selbst wenn ich es versuchen würde, würde ich meinen Versuch schon im Anfangsstadium abwürgen, da ich nicht das Bedürfnis verspüre mich ihnen mitzuteilen. Wieso soll ich etwas machen, was ich als unangenehm empfinde und nur widerwillig über mich ergehen lassen würde? Das ergibt doch keinen Sinn. Gibt es überhaupt einen Sinn? Ich kann sie nicht verstehen. Zum Beispiel Anja, deren Vogel gestorben ist. Sie lief heulend durch die Gegend und suchte jemanden, bei dem sie sich ausheulen konnte. Gegen all dies gibt es ja nichts einzuwenden, doch als ich sie fragte, was denn los sei, sagte sie es mir, und danach sahen wir uns an und keiner wußte, was er sagen sollte. Es fehlte einfach die Verbindung. Und sie tat mir leid, doch ich war nicht in der Lage es ihr zu sagen, weil wir auch sonst keinen Draht zueinander haben.

 

Liebes Tagebuch 20.8.1989

Ich sitze hier an diesem kleinen See. All die anderen sind im Ort geblieben. Nun endlich naht das lang ersehnte Ende. In zwei Tagen fahren wir wieder nach Haus. Endlich. Wenn ich so alleine bin, suche ich in mir. Doch ich weiß nicht was. Es ist ein ständiges Fragen. Nur selten bekomme ich Antworten, doch auch diese werfen zehn neue Fragen auf. Wenn ich ehrlich sein soll, belüge ich mich seit ich das Tagebuch schreibe selbst. Nicht in allen Punkten, doch in dem einen schon. Der Außenseiter, den ich in mir sehe, der bin ich nicht. Nicht in dem Maße, wie ich es geschrieben habe. Es war eine Wunschvorstellung, so wie ich mich sehen wollte, aber nicht bin. Sicher, ich bin anders als die anderen, aber ich komme doch eigentlich gut mit ihnen aus. Nur streiche ich immer nur die Extreme heraus. Warum ich es getan habe? Ich weiß es nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht. Sehr lange. Es ist mir bis vor kurzem gar nicht aufgefallen. Aber in den letzten Tagen habe ich die anderen näher kennengelernt. Es stellte sich heraus, daß sie gar nicht so übel sind, wenn man sich mit jedem einzelnen unterhält. Nur in der Masse versuchen sie uneinnehmbar zu sein. Dabei fiel mir auf, auch wenn ich es schon früher festgestellt habe, so habe ich es doch stets verdrängt, daß ich von den anderen akzeptiert werde. Sicher, ich bilde nicht den Mittelpunkt der Klasse, doch bin ich schon lange nicht mehr ein Fremdkörper. Vielleicht versuchte ich etwas zu verdrängen, in dem ich mir die Tatsache vor Augen hielt, daß ich ein Außenseiter sei, um einen anderen Punkt nicht sehen zu müssen. Vielleicht war es nur ein Vorwand, um die Tatsache zu entschuldigen, daß ich einsam bin, und das nur, weil mich keiner versteht. Doch in den Gesprächen, die ich mit den einen und dem anderen führte, merkte ich, daß sie auch einsam sind und Sehnsüchte haben. Und jetzt, wo ich es schreibe, da ich es glaube erkannt zu haben, geht es mir viel besser. Holger hat mir erzählt, daß er auch ein Tagebuch schreibt. Und er fing von ganz alleine an zu erzählen. Er würde sich irgendwie selbst etwas vor machen. Er schreibt Dinge auf, die gut klingen und auch vernünftig scheinen und heißt sie gut, obwohl er genau das Gegenteil fühlt und will. Er meint, daß er dies mache, weil er Angst hätte, daß irgend jemand sein Tagebuch lesen könnte. Oder daß er etwas vorgibt zu hoffen, sich aber nichts sehnlichster als das Gegenteil wünscht. Ich meine, dann brauchte er doch kein Tagebuch zu führen. Doch er entgegnete mir, daß es zur Beruhigung seines Gewissens sei. Nach einer Weile rückte er dann mit einem Beispiel raus. Wenn er hofft, daß ein Mädchen ihn als Freund haben würde wollen, schreibt er in sein Buch, daß sie ihn auf jeden Fall will, er aber noch nicht weiß, ob er sie will und noch überlegen müßte, und somit noch Zeit brauche. Wenn dann aus der ganzen Hoffnung nichts wird, weil sie nicht wollte, fühlt er sich nicht ganz bloßgestellt und schreibt in sein Tagebuch, daß er sie nicht wollte. Somit klingt alles ganz gut. Und glaubt sein Gesicht nicht verloren zu haben. Ich bin froh, daß er mich auf diese Gefahr aufmerksam gemacht hat, nur so kann ich mich doch selbst überprüfen. Und was bringt es mir denn, wenn ich mich selbst belüge. Nun bin ich von den Mücken total zerstochen und fühle mich dennoch freier als je zuvor. Weil ich weiß, daß alle anders sind. Ich brauche nur etwas Toleranz und Verständnis mitbringen und schon bin ich weniger ein Außenseiter. Was bleibt, ist die Erfahrung, daß ich mich zu dem machen kann, was ich gern sein will, aber gar nicht bin, aber nur in meiner Phantasie.

 

Liebes Tagebuch 12.9.1989

Es tut sich was. Die Menschen, die sich gestern zum zweiten Mal in Leipzig zusammen gefunden haben, wollen etwas verändern. Sie demonstrieren friedlich und Dad meint es wird Zeit, daß sich etwas bewegt. Ich bin froh darüber, denn es spalten sich die Menschen in zwei Lager. Und daß etwas geschehen muß, ist doch nicht zu übersehen. Auch unsere Stabi Schmidt macht einen unsicheren Eindruck auf mich. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.

 

Liebes Tagebuch 3.10.1989

Es werden immer mehr bei den Montagsdemos. Dad ist besorgt, er meint, es könnte zu Auseinandersetzungen am siebenten Oktober kommen. Die Demos haben sich sogar schon auf Dresden und Berlin ausgebreitet. In welche Zeit sind wir nur hineingeraten? Wir sind ein Arbeiter- und Bauernstaat, und nun gehen diese auf die Straßen und wollen Veränderungen. Von wem werden wir denn dann eigentlich regiert? Sind das denn keine Arbeiter und Bauern? In der Schule redet so gut wie kein Lehrer darüber. Und wenn sie von uns daraufhin angesprochen werden, schauen sie hilflos drein und schweigen. Ich verstehe das nicht. Sie sind doch diejenigen, die es uns erklären müßten, doch sie wissen selbst nicht, was los ist, oder haben Angst.

 

Liebes Tagebuch 18.10.1989

Eben kam es im Fernsehen, Honecker ist zurückgetreten. Krenz sei jetzt unser Staatsratsvorsitzender. Ich bin schockiert, aufgewühlt und froh zugleich. Dad meinte nur, daß Honecker nicht freiwillig zurückgetreten sei. Und daß Krenz nichts ändern wird. Sie haben lediglich den Senilen gegen den Suffkop eingetauscht. Ich kann meine Gedanken nicht zusammenhalten. So war es für mich nur eine unbedeutende Randnotiz, daß San Francisco von einem starken Erdbeben heimgesucht wurde.

 

Liebes Tagebuch 9.11.1989

Die Mauer ist offen! Die Mauer ist offen! Ich kann es nicht glauben, doch im Fernsehen zeigen sie die Bilder. Es stimmt. Die Mauer ist offen.

 

Liebes Tagebuch 19.11.1989

Was ist Stolz? Wozu dient er? Unsere Frau Schmidt meinte noch vor einer Woche, daß jeder soviel Stolz haben sollte, das Begrüßungsgeld von hundert DM nicht zu nehmen. Heute kam sie mit einer fetten Goldkette um den Hals zur Schule, von ihrem Begrüßungsgeld habe sie sich die gekauft. Sie wäre ja dumm, wenn sie als einzige nicht das Geld nehmen würde, wo andere sogar mehrmals die hundert DM abfassen gingen. Ich habe auch meine hundert DM mit Ma und Dad geholt, doch ich weiß noch nicht, was ich mir davon kaufen soll. Ich bin auch ohne das Geld glücklich, also hebe ich es auf, wer weiß, wofür es einmal gut sein wird.

 

Liebes Tagebuch 20.1.1990

Der Wahlkampf für die Volkskammerwahl im März ist voll im Gange. So wie die derzeitige Entwicklung aussieht, wird die SPD das Rennen machen. All der ganze Rummel ist zum Alltag geworden und ich registriere jede neue Meldung, aber ohne Gefühlsausbrüche. Die meisten spekulieren und hoffen, daß es zur Vereinigung kommt. Ich weiß nicht, was ich will.

 

Liebes Tagebuch 13.2.1990

Der Kanzler erhielt von Gorbi grünes Licht zur Wiedervereinigung. Nun wird sie wohl kommen. Fragt sich bloß wann? Nun mischen die westdeutschen Parteien gehörig mit im Wahlkampf. Mit der Birne als Galionsfigur haben die Christdemokraten den andern Parteien die Wahl schon im Vorfeld abgenommen. Wer soll es ihnen denn verdenken, jeder will doch sein Machtgebiet erweitern. Leid tun mir nur die wenigen Intellektuellen, die die Wende ins Rollen gebracht haben und nun von ihr überrollt werden. Sie wollen nicht von der BRD einverleibt werden, sondern einen wirklichen sozialen Staat aufbauen. Doch der Slogan "Keine Experimente mehr!" zieht mehr als die Vernunft. Dad meint, daß die vielen Rentner und auch die weniger Intelligenten den Sieg der CDU sichern werden, weil sie nicht mehr auf die DM verzichten wollen. Nach jahrelangen Entbehrungen wollen sie schließlich auch ein Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen und nicht mehr warten. Ich finde es ungerecht, schließlich ist es doch unsere Zukunft, die der Jugend. Und wenn wir nicht wollen, müssen wir eben damit leben?

 

Liebes Tagebuch 19.3.1990

Es kam, wie es zu erwarten war. Die CDU hat gewonnen und de Maizière hat nun die Aufgabe, den Staat, den er führen soll, zu beseitigen. Die Christdemokraten sind mir unheimlich, weil sie, ich kann es nicht einmal in Worte fassen. Ich traue ihnen einfach nicht, und ein schlechtes Gefühl ergreift mich, wenn ich die politische Entwicklung betrachte. Immer mehr glaube ich, daß wir die falsche Seite gewählt haben, vielleicht täusche ich mich aber auch nur, hoffentlich!

 

Liebes Tagebuch 2.4.1990

Rohwedder ist tot. Bis gestern wußte ich nicht mal, daß es ihn gab, oder wer er war. Dad hat mich dann in die Geheimnisse der Treuhand eingeweiht. Es ist doch eine Ungerechtigkeit, daß die Leute, die schon zu DDR-Zeiten das Ruder hatten, nun untereinander das Volkseigentum aufteilen und sich an ihm bereichern, auf Kosten der Arbeiter. Und die Geier des Westens sich die ganzen Brocken holen. Aber wie soll denn sonst das Volkseigentum in Privateigentum überführt werden? Muß denn überhaupt eine Überführung stattfinden? Warum können denn nicht die Arbeiter, die in den Betrieben arbeiten, Eigentümer der Fabriken werden?

 

Liebes Tagebuch 21.4.1990

Bald ist das Schuljahr vorbei und die Prüfungszeit bricht an. Noch mache ich mich nicht heiß, aber wenn die Prüfungen losgehen, werde auch ich nicht die Ruhe sein. Wenn ich mir das letzte Schuljahr so anschaue, muß ich sagen, daß es das leichteste von allen war. Was vielleicht mit der Wende zusammenhängt. Aber ich kann später mal von mir sagen, daß ich die letzte Klassenstufe war, die noch das Wehrlager mitmachen mußte. Denn den Wehrunterricht gibt es nicht mehr und somit auch nicht das Wehrlager. Den Staatsbürgerkundeunterricht gibt es auch nicht mehr. Er heißt jetzt Gesellschaftskunde, und ist das einzige Fach, bei dem es keine Noten gibt. Wenn ich versuche, mir das nächste Schuljahr vorzustellen, weiß ich nicht, was mich erwarten wird. Und dieses Schuljahr habe ich im Kopf eigentlich schon abgeschlossen.

 

Liebes Tagebuch 26.4.1990

Ich habe Angst vor der Zukunft, weil ich nicht weiß, was kommen wird. Niemand weiß, was kommen wird, doch ich male mir alles in den düstersten Farben aus. Dabei sieht doch alles so gut aus, wenn man den Politikern glauben darf. Nicht mehr lange, dann haben wir die DM und alles wird besser werden, glauben alle. Ich nicht. Doch ich habe ja keinen Grund pessimistisch zu sein. Ich bin jung. Ich habe noch mein ganzes Leben vor mir. Und genau davor habe ich Angst. Was ist, wenn mir die Zukunft nur Leiden bringt? Was ist, wenn in zwanzig Jahren die Luft zum Atmen nicht mehr reicht, wenn das Ozonloch immer größer wird und wir alle verbrennen? Was ist wenn ein neuer Weltkrieg ausbricht? In solchen Augenblicken denke ich oft an den Tod. Daß ich mir ein schrecklicheres Leiden ersparen würde, wenn ich rechtzeitig diese Welt verlassen würde. Nur die Feigheit vor dem Tod und die Hoffnung, daß es vielleicht doch ganz gut werden könnte, lassen mich vor dieser schweren Entscheidung zurückweichen.

 

Liebes Tagebuch 1.5.1990

Es ist das erste Mal, daß wir nicht zum Marschieren gezwungen werden. Es ist ein komisches Gefühl. Es ist nicht so, daß früher keiner marschieren wollte, vielmehr war es so, daß die meisten es wollten. Aber die Partei zwang alle zum Marschieren, auch die, die sowieso hingegangen wären. Und dadurch wollte dann die, die es freiwillig gemacht hätten, doch nicht mehr. Nun ist es aber ein Feiertag und somit fahre ich lieber in die Natur, denn die Sonne scheint. Ich sitze hier auf meiner Wiese und um mich herum brummt, surrt, zirpt, kriecht und hüpft es. Das Grün riecht frisch und schert sich einen Dreck um die Probleme der Menschen, mit Recht. Mir hingegen ist es nicht egal, da ich ja ein Mensch bin. Doch versuche ich die großen Probleme aus meinem Kopf zu sperren und mich auf meine Prüfungen zu konzentrieren, denn dieses Ereignis ist das bedeutendste in nächster Zukunft für mich. Auch wenn ich viele Sachen nicht für ganz so bedeutend halte, wie ich es eigentlich sollte. Doch was ist überhaupt bedeutend? Für die Ureinwohner von Australien ist die deutsche Vereinigung total unwichtig, weil sie sich weder direkt noch indirekt auf ihr Leben auswirkt. Für die Typen an der Börse ist es jedoch ein Jahrhundertereignis. Den Aborigines ist es wichtig, daß Mutter Erde, Vater Himmel und Bruder Luft gesund bleiben, denn sie haben auf ihr Leben Einfluß, an der Börse spielen diese Dinge nur eine sehr untergeordnete Rolle, oder gar keine, denn sie sehen ja die Erde und den Himmel nicht, denn sie sind ja in einem riesigen Haus. Und die Klimaanlagen sorgen schon für saubere Luft, auch wenn draußen Smog ist. Aber ich sitze ja unter freiem Himmel und ein Kuckuck sagt mir, daß ich recht habe.

 

Liebes Tagebuch 12.5.1990

Ma liegt im Bett und ist schwer krank. Dad ist sehr still geworden, er macht sich mehr Sorgen als ich. Nicht daß ich mir keine Sorgen mache, doch ich weiß, daß sie wieder gesund wird. Also schmeiße ich den Haushalt, denn wenn Dad von der Arbeit kommt, setzt er sich zu Ma an`s Bett und hält ihre Hand. Sie hat sehr hohes Fieber, der Arzt meinte eine schwere Grippe. Ma ist selten krank.

 

Liebes Tagebuch 15.5.1990

Der Arzt hat einen Rettungswagen kommen lassen und Ma in ein Krankenhaus eingewiesen. Das Fieber ist nicht gesunken, und ihr geht es schlechter als in den Tagen zuvor. Dad ist fix und fertig, ich auch. Nun beginne auch ich mir Sorgen zu machen. Hoffentlich wird sie recht bald wieder gesund. Wenn Ma sehen würde, wie Dad neben sich steht, sie würde auf der Stelle wieder gesund werden. Doch sie befindet sich im Fieberschlaf. Ich darf mich von Dad, so schwer es mir auch fällt, nicht anstecken lassen. Er hat Urlaub genommen, weil er nicht anders konnte. Mein Argument, daß er dort doch wenigstens Ablenkung hätte, wies er mit der Tatsache zurück, daß ihn nichts ablenken könnte. Was ich ihm glaube. Doch ich brauche Ablenkung, sonst reibe ich mich daran noch auf.

 

Liebes Tagebuch 17.5.1990

Ma`s Fieber ist nun endlich gefallen. Der Oberarzt meinte, es hätte auch anders kommen können, denn es war eine sehr schwere Grippe, doch nun sei sie wieder über`n Berg. Dad will morgen wieder arbeiten gehen. Daß er die letzten Nächte so gut wie nicht geschlafen hat, sieht man ihm an, er sieht nicht gut aus, fast so krank wie Ma. Jetzt, wo sie wieder gesund wird, kann ich wieder lachen, doch ist es mehr eine Art innerer Erleichterungsschrei. Was geschehen wäre, wenn sie nicht mehr gesund geworden wäre, ich kann und mag es mir nicht vorstellen.

 

Liebes Tagebuch 20.5.1990

Ma kann in zwei Tagen das Krankenhaus verlassen. Sie muß aber noch zwei Wochen Bettruhe befolgen und ist noch weitere drei Wochen krankgeschrieben, denn ein Rückfall ist nicht auszuschließen und wäre viel schlimmer. Also bin ich noch zwei Wochen Hausmann. Dad meinte, daß die Frau, die mich später mal kriegen wird, enormes Glück haben wird, denn ich bin gar keine so schlechte Putze und Köchin. Es tut so gut, daß er wieder der Alte ist. Denn seinen Kummer empfand ich noch schlimmer als die Sorgen, die ich mir um Ma machte, und die waren bestimmt nicht ohne. Doch neue Sorgen haben sich in meinem Kopf niedergelassen. Die USA, als die weltgrößten Luftverpester, haben die erste weltweite Klimakonferenz platzen lassen, weil sie keine Grenzwerte wollen. Ich frage mich, ob man denn wirklich so ignorant der Umwelt gegenüber sein kann. Je mehr ich darüber nachdenke verspüre ich Wut, tiefen Haß gegen diese Menschen, und wünschte mir, daß sie über ihren Schornsteinen gefesselt einen langsamen Erstickungstod sterben mögen. Doch sie haben ja Klimaanlagen überall, im Auto, im Büro, im Konferenzraum, in der Wohnung und wo sonst noch.

 

Liebes Tagebuch 30.5.1990

Die schriftlichen Prüfungen sind vorbei. Ich habe ein gutes Gefühl, sogar Chemie lief wie geschmiert. In einer Woche habe ich dann noch Deutsch und Chemie mündlich, besser hätte es mich nicht treffen können. Ma ist nun wieder wohl auf, bleibt aber trotzdem im Bett, so wie es ihr der Arzt verordnet hat. Ich habe beschlossen in den Sommerferien mit dem Fahrrad und meinem Zelt durch die Gegend zu fahren. Ma findet es nicht so gut, weil ich alleine fahre, aber Dad ist dafür.

 

Liebes Tagebuch 30.6.1990

In den letzten Tagen herrschte reges Treiben in den Sparkassen, denn jeder wollte sein Geld so umverteilen, daß er am günstigsten seine Mark in DM getauscht bekommt. Und ab morgen haben wir sie dann, die DM. Es ist schon komisch, aber die Leute können doch zufrieden sein. Ihr Wunsch geht in Erfüllung. Doch sie verhalten sich sehr zurückgezogen und verstört. Jeder denkt erst einmal an sich. Ich kann zwar keine genauen Beispiele dafür finden, oder gar nennen, doch ich kann dieses Gefühl nicht loswerden.

 

Liebes Tagebuch 4.7.1990

Noch immer stehen die Leute in langen Schlangen vor den Sparkassen, um sich ihr Geld zu holen, als würde die DM wieder abgeschafft werden und jeder müsse seine Mäuse holen. Ist das eine verrückte Zeit. In London war wieder so eine Umweltkonferenz. Die teilnehmenden Staaten verpflichteten sich die derzeitige FCKW-Produktion bis zum Jahre 2000 zu stoppen. Es klingt ja sehr gut, aber soviel man weiß, brauchen diese Treibgase über zehn Jahre um bis zur Ozonschicht zu gelangen. Das bedeutet, daß jetzt erst die Gase von 1980 dort angekommen sind. Damals sollen diese Gase erst richtig in Mode gekommen sein, und dann im großen Stil produziert worden sein. Und die Ozonschicht ist jetzt schon löchrig. Ich will ja nicht pessimistisch wirken, aber was bringt es uns denn, wenn wir die FCKW-Produktion einstellen, zu einem Zeitpunkt, da es gar keine Ozonschicht mehr gibt. Und wenn die Produktion wirklich zum festgelegten Zeitpunkt eingestellt werden würde, würde das letzte Gas im Jahre 2010 oben ankommen. Ich bin dann 37 Jahre, ein gutes Alter zum Sterben, falls ich überhaupt so alt werden will. Ich stelle es mir nämlich sehr unangenehm vor, an Hautkrebs zu sterben. Den wenigen, die an der Produktion verdienen, ist das egal, denn zu diesem Zeitpunkt werden sie zum größten Teil in der Kiste liegen.

 

Liebes Tagebuch 12.7.1990

Es sind Ferien, meine letzten als POS-Schüler. Ich genieße sie, als wären es meine letzten überhaupt, man weiß ja nie, was kommen wird. Ich habe mein Fahrrad dabei und bin mit dem Zug unterwegs zu Rötschels, da sie mich eingeladen haben. So habe ich vor, zwei Wochen bei ihnen zu bleiben, und dann mit dem Fahrrad langsam nach Hause zu fahren. Ich habe lange überlegt, was ich alles mitnehmen sollte. Letzten Endes war es so minimal, daß ich noch Platz für ein Buch hatte. So nahm ich "Die Odyssee" von Homer, warum, weiß ich nicht so recht, und verstaute es in meiner Fahrradtasche. Durch den ganzen Stress in den letzten Monaten hatte ich gar keine Zeit mir über meine Einsamkeit den Kopf zu zerbrechen. Ich muß auch sagen, daß ich gar nicht einsam bin. Einsam ist man doch nur, wenn man allein ist, oder sich allein gelassen fühlt. Das soll aber nicht heißen, daß ich nicht das tiefe Verlangen nach einer wahren Liebe verspüre. Aber ich bin nicht in der Lage auf ein Mädchen zu zugehen und zu sagen: "Ich bin einsam, laß uns Romeo und Julia werden." Außerdem finden die meisten Mädchen in meinem Alter Shakespeare scheiße, falls sie ihn überhaupt kennen. Also warte ich bis mich meine Eos holen kommt.

 

Liebes Tagebuch 15.7.1990

Welch ein Leben. Ohne Sorgen, was morgen passieren wird. Ich lieg’ tagsüber am Strand um zu lesen, oder zu dösen, oder lauf’ ihn entlang, um die vielen Menschen zu beobachten. Es ist ein Gewühl wie auf einem Ameisenhaufen. Nur mittags, wenn die Sonne am höchsten steht, versucht jeder der sonnenhungrigen Helios-Anbetern seine Bewegungen auf`s minimalste zu beschränken. Dann liegen sie mit ihren öligen braungebrannten Häuten auf ihren Decken. Oder versuchen im Meer Kühlung zu bekommen. Abends aber fängt das richtige Leben und Treiben im Ort an. Gestern bin ich zum ersten Mal allein in einen Biergarten gegangen. Der Hinterhof der Kneipe bildet den Garten in denen viele Klapptische und Stühle stehen. Mitten im Hof steht eine riesige Kastanie, die sehr alt ist. Und in einer Ecke stand noch ein leerer Zweiertisch, der einzige, der noch frei war. Ich setzte mich, und nach wenigen Minuten kam eine dicke herzliche Wirtin und fragte mich: "Na men Jung, wat willst?" Ich bestellte mir ein Glas Weißwein und ein Wasser. Ich trinke sonst nie Alkohol, aber irgendwas ließ mich meine Einstellung vergessen. Ich nahm meinen Homer und fing an zu lesen. Anfangs hatte ich echte Schwierigkeiten mit dem Stil zurecht zu kommen, doch ich gewöhnte mich schnell daran, nachdem ich ein paar Seiten gelesen hatte. Ich vergaß wo und wer ich war. Die Zeit verging ohne das ich es mitbekam. Ich befand mich mitten in der Odyssee. Ich trank an dem Abend zwei Gläser, und als ich mich auf den Heimweg machte, schoß mir der Wein in den Kopf und ich befand mich immer noch im Homer. Ja ich fing an so zu denken wie er geschrieben war. Und in meinen Gedanken vertieft befand ich mich auf einmal in meinem Zimmer.

 

Liebes Tagebuch 16.7.1990

Ich sitz` hier in meiner Ecke unter der mächtigen Kastanie. Es ist schon der dritte Abend in Folge, daß ich hierher komme. Irgendwie fühl` ich mich wie in eine längst vergangene Zeit zurück versetzt. Schon als ich hinter ging, begrüßte mich die Wirtin ganz lieb und wie sie eben zu meinem Tisch kam, brachte sie mir einen Wein und ein Wasser mit. Obwohl ich, seitdem ich hier angekommen bin, keinen Menschen kennengelernt hab`, fühl` ich mich nicht einsam. Ich verschwende für dieses mitleidige Gefühl keinen Augenblick meiner unendlich scheinenden und sorglosen Zeit. Wenn ich mich nicht gerade in meinen Homer entführe, verliere ich mich tagsüber in meiner Umwelt. Lieg` auf meiner Decke am Strand und schau` den Himmel an, reise den Wolken nach. Zum Abendbrot find` ich mich immer zu Hause, bei meinen Lieben, ein und erzähle von meinen Erlebnissen. Sie ergötzen sich an meiner sorglosen Zufriedenheit und haben noch kein Mal versucht mich in meinen Flugversuchen zurückzuhalten, was ich ihnen von Herzen danke. Wäre Ma mit, sie hätte schon längst gesagt: "Willst du nicht mal einen Abend mit uns verbringen?!" Sicher ich würde es dann auch machen, schon weil ich sie so gern hab`, aber so ist es besser, daß ich entscheide, wann ich einen Abend mit ihnen verbringen will. Und wenn ich denn den ganzen Urlaub hier, nicht einmal den Drang verspüre dies zu wollen, dann mach` ich es eben nicht. Und das ist für mich die ganze Freiheit, die ich will, die ich vollends auslebe.

 

Liebes Tagebuch 17.7.1990

So lieg` ich hier am Strand und laß den gestrigen Abend noch einmal in Gedanken an mir vorbei ziehen. Es war ein mysteriöser Abend, voll von unheimlichen Zeichen, die ich nicht im Stande war zu deuten. Vielleicht waren es auch nur dumme Zufälle, die aufeinander gewartet hatten, um gemeinsam zu zuschlagen, um mich zu verwirren. Ich steckte mein Schreibzeug weg und holte meinen Homer hervor. Begann den siebzehnten Gesang zu lesen und als ich an die Stelle "Dort lag der Hund Argos...- Da wedelte er, als er den Odysseus nahe bei sich stehen sah, mit dem Schwanz und legte die beiden Ohren an." kam, stand ein alter grauer Schäferhund vor mir und sah mich mit wedelnden Schwanz an. Mir stockte der Atem. Er kam langsam auf mich zu und meine Hand ging automatisch zu seinem Kopf, fing an ihn zu kraulen, bis ihn sein Herrchen rief. Ich weiß nicht mehr wie lang ich den Hund anstarrte und unfähig war weiter zu lesen. Irgendwann gingen sie, und ich las weiter, trank meinen honigsüßen Wein. Dämmerung kam auf und in der Ferne war ein dumpfes Grollen eines Sommergewitters zu hören. Die Luft wurde merklich schwüler und das Donnern kam näher. Ich war an das Ende angelangt, wo Odysseus den Amphinomos warnte, da durchzuckte ein greller Blitz die Lüfte und alles erstrahlte für einen Bruchteil einer Sekunde im hellen Schein und gleich darauf folgte ein so heftiges Krachen eines Donners, daß jeder der Gäste, wie unter einem Stromschlag, zusammenzuckte. Doch es fiel kein Regen. Aber das war bei weitem noch nicht alles. Es fiel mir schwer die Realität von der Odyssee zu trennen, ob nun durch den Wein, oder durch die Ereignisse des Abends vermag ich nicht zu sagen. So saß ich nun unter meiner Kastanie und las weiter in meinem Homer. Penelopeia kam die Stufen zu den Freiern herunter und ich schaute scheu um mich. Durch die Tür der Gaststube kam eine etwas ältere Frau mit ihrer Tochter, glaub` ich. Mir wurde schwindlig und ich klappte das Buch zu. "Kann das denn sein?", fragte ich mich, denn das Mädchen strotzte vor innerer und äußerer Schönheit. Oder war es nur ein Trugbild meiner all zu sehr vom Wein verschleierten Phantasie? Auf der Stelle zahlte ich meinen Wein und ging nach Haus. Ich glaub`, daß ich nicht mehr in den Biergarten gehen werd`. Je mehr ich d`rüber nachdenke, um so wirrer werden meine Vorstellungen.

 

Liebes Tagebuch 20.7.1990

Ich hab` meinen Homer beendet und will heut` abend wieder in den Biergarten geh`n. Ich glaub`, daß ich das aus Neugier mach`, denn ich bin gespannt, was passieren wird.

 

Liebes Tagebuch 25.7.1990

Die Zeit ist rum, morgen fahre ich mit meinem Rad in Richtung Heimat ab. Rötschels baten mich noch ein paar Tage zu bleiben. Ich kann nicht. Würd` ich doch ihnen zu Liebe gern hier mein ganzes Leben verbringen, doch es zieht mich raus, raus in das weite Unbekannte. Es ist, wie eine Mutprobe, die ich mir stelle und die ich um jeden Preis bestehen will. Schon allein wegen der Tatsache, daß ich nicht dieser Waschlappen bin, für den ich mich selbst all die Jahre gehalten hab`. Es geht nur zweitrangig darum, meiner Umwelt zu sagen: "Seht her, ich werde langsam ein Mann." Und dann sind da noch die Landschaften, die Menschen, einfach die Natur, die ich noch nicht kenne, aber die ich seh`n will.

 

Liebes Tagebuch 30.7.1990

Erst jetzt vermag ich langsam zu begreifen, was wahre Freiheit bedeutet. Ich fahre gemütlich und wenn ich nicht mehr mag, oder mir ein Ort besonders gut gefällt, dann halte ich einfach an und schlage mein Lager auf. Gestern war ich noch dort, heute bin ich hier und morgen werde ich ganz woanders sein. Und sollte es mir an einem Ort ganz besonders gut gefallen, dann kann ich doch zwei Nächte dort verweilen. Wobei ich nicht glaube, daß ich es so machen werde, denn ich würde das Gefühl nicht ertragen können, daß ich irgend etwas verpassen könnte. So fahr` ich ja nicht schnurstracks in Richtung Heimatstadt, sondern schlenkere auf der Karte kreuz und quer, wie ein Betrunkener auf dem Fahrrad um Kegel.

 

Liebes Tagebuch 29.8.1990

Ab dem dritten Oktober gibt es keine DDR mehr und wir sind dann Bundesbürger der BRD. Ich hoff’, daß ich die Gänsehaut, die ich eben bekam, nicht von Angst herrührte. Aber was soll`s, es ist wohl eine weltweite Entwicklung, aus Zwei mach` Eins, wie im Golf. Ich bin sicher, daß die Kuwaitis nicht ganz so liebevoll wählen durften. Aber sicher bin ich mir da auch nicht.

 

Liebes Tagebuch 24.9.1990

Gymnasiast, bin ich nun. Die Schule ist die alte geblieben, nur hieß sie noch vor zwei Monaten EOS. Mir ist`s egal. Doch der Stoff haut voll rein. Ich muß mich ganz schön strecken, wenn ich das Schiff heil und sicher zum Zielhafen bringen will. Aus meiner Schule sind noch zwei Mädchen aus meiner Parallelklasse herübergewechselt. Ansonsten muß ich mich erst noch an meine neuen Kameraden gewöhnen. Und was noch neu für mich ist, daß ich hier einen Banknachbarn habe. Albert, so einen Typen habe ich noch nicht kennengelernt. Schlau, direkt, berechnend, und das, als würde jedes Lebewesen nur aus Zahlen und Formel bestehen, und er ist die wohl beste Rechenmaschine. Nicht, daß er über besondere Menschenkenntnisse verfügen würde. Er macht nur das, was ihm nützt. Aber er ist ehrlich und versteht Spaß, und das macht ihn so sympathisch. Wir kamen von anfang an gleich super miteinander aus. Da seine Stärken in Chemie, Mathematik und Physik liegen, ergänzen wir uns nahezu perfekt. Er wohnt auch hier in S., doch habe weder ich ihn, noch er mich je zuvor gesehen. Seine Mutter ist Lehrerin und sein Vater ist tot. Als ich glaubte, daß ich in ein riesen Fettnapf gelatscht zu sein schien, wie ich ihn fragte, wurde ich eines besseren belehrt. Er sagte, daß es so lange her sei, daß er sich nicht einmal an ihn erinnern kann. Fügte dann noch hinzu, daß er noch eine Schwester, die zwei Jahre älter ist und nun Krankenschwester lernt, habe.

 

Liebes Tagebuch 2.10.1990

Morgen ist Feiertag. Schau`n wa mal, was denn alles zu feiern gibt. Mir fällt nichts ein.


 

 

Auswahl

 

letzte Bearbeitung: 07.05.2014 Literatur Dramen Kontakt: Ray Helming