Aus den Tagebüchern zweier Lebender

 

Drittes Kapitel

Liebes Tagebuch 2.9.1992

Ich bin mir sicher, daß meine Clara ihre Finger im Spiel hatte. Es ist mir nur ein Rätsel, wie ein Azubi diese Beziehungen haben kann. Sogar mit meinem Urlaub gibt es keine Probleme. Obwohl ein Zivi in den ersten drei Monaten gar keinen Urlaub nehmen darf. Ich bin ihr auf der einen Seite sehr dankbar, daß sie mich gut untergebracht hat, doch auf der anderen ist es den anderen Zivis gegenüber ungerecht. Doch dies` beschissene System baut sich doch nur auf Beziehungen, Bestechungen und Erpressungen auf. Wer überleben will fügt sich unauffällig ein. Ich will mich ja einfügen, doch mein Herz verweigert mir den Gehorsam, mein Gewissen hat sich erhängt, mein Stolz lacht mich aus, mein Genius will gehen, wenn ich so weiter mache.

 

Liebes Tagebuch 8.9.1992

Die Ereignisse von Rostock lassen mich nicht ruhen, oder besser meinen Geist. Was wollen sie denn eigentlich? Ich denke, daß die neuen Nationalverpeilten es zum größten Teil gar nicht wissen, was sie dort tun und anderswo. Viele von den Kids machen mit, weil der Freund auch mitmacht und überlegen gar nicht wie primitiv doch eigentlich ihr Verhalten ist. Sie wollen Aktion, Spaß und Nervenkitzel. Es geht ihnen doch gar nicht um die Deutsche Rasse, mit diesem Mythus haben sie sich doch gar nicht beschäftigt, sonst hätten sie doch feststellen müssen, daß er gar nicht existiert, daß alles nur Lügen sind. Logisch klingt es erst einmal gut, wenn man "Deutschland den Deutschen!" brüllt. Aber irgendwann werden sie das Interesse an diesem rebellierenden Versuch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken verlieren, wie ein Kind, das irgendwann nicht mehr mit dem Dreirad fahren will, weil es den Roller für sich entdeckt hat. Die Menschen, die mir wirklich Angst machen, sind die echten Rechten, die nicht mehr zwischen Realität und Wahnvorstellung unterscheiden können. Die an einer Ideologie festhalten, die nichts als Leere besitzt und somit den Inhalt der Köpfe dieser Kreaturen widerspiegelt. Die bereit sind für diese Ideologie zu töten und dazu glauben, daß sie im Recht seien. Doch am schlimmsten sind die pflichtbewußten Kinder Frankensteins. Ihr Handeln ist das gefährlichste, denn diese Hüllen können nicht fühlen. Merle beschrieb diesen Typ Mensch hervorragend in seinem Roman "Der Tod ist mein Beruf". Ich bekomme jetzt noch Horrorvisionen, und es ist schon ein paar Jahre her als ich das Buch las. Im Vergleich zu diesen Menschen erscheinen mir die Anarchisten, Sozialisten und auch Kommunisten als realitätsferne Tagträumer eher mitleidig. Denn ihr Wunsch von mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit ist mehr als nur utopisch. Müßten sie doch die Gier abschaffen, aus den Köpfen der Menschen verbannen. Doch das können sie nicht. Wenn ich erlebe, wie man heute auf die sozialistischen Staaten schimpft, fühle ich Wut und Mitleid mit diesen Menschen. Wissen sie doch nicht, was Sozialismus und Kommunismus bedeutet, und daß es nie solche Staaten gab. Die Staaten, die sich so nannten waren nicht einmal im Ansatz sozialistisch, denn in den Köpfen der Menschen existierte immer das Bestreben mehr zu haben als die anderen, denn es liegt in der Natur des Menschen. Somit konnte sich von anfang an kein sozialistischer Geist entwickeln, auch wenn er noch so gerecht ist. Und die Ängste die die Regierungen der kapitalistischen Staaten unter den Bevölkerungen verbreiten lassen sind für das Volk so ungefährlich, wie sie für die Regierungen berechtigt sind. Was mir auch noch auffällt, ist ihre oberflächliche Betrachtungsweise. Werfen sie doch Anarchisten, Autonome, Grüne, Sozis und Kommunisten in einen Topf. Es ist als würde man Katholiken, Evangelisten, Mormonen und Zeugen Jehovas in einen Topf schmeißen.

 

Liebes Tagebuch 17.9.1992

Es war heute ein sehr anstrengender Tag. Clara liegt an mich gekuschelt und schläft schon. Der Flug an sich war nicht sehr schlimm, aber alles in allem, bin ich froh, den heutigen Tag hinter mir zu haben. Nach dem wir am Edinburgher Flughafen unser Mietauto abgeholt hatten, verließen wir die Stadt in Richtung Norden. Da ich das Auto nicht fahren darf, weil die Versicherung im Falle eines Unfalls sonst nicht zahlen würde, fuhren wir bis Clara keine Lust mehr hatte. In irgend so einem kleinen schottischen Dorf machten wir einfach halt und suchten uns eine Bed & Breakfast-Unterkunft. Die Vermieterin ist sehr lieb und spricht kein Wort Deutsch, was ich sehr gut finde. Denn schließlich ist es doch ein Zeichen von Freundlichkeit und Herzlichkeit, wenn man sich bemüht, die Sprache des Landes in dem man sich befindet zu sprechen.

 

Liebes Tagebuch 30.9.1992

In zwei Tagen fliegen wir wieder nach Hause. Doch ich bin mir sicher, daß ich irgendwann zurück nach Schottland kommen werde. In den wenigen Tagen, die wir hier zur Verfügung hatten, haben wir uns so sehr an dieses Land und den Bewohnern gewöhnt, liebgewonnen, daß wir alle Sorgen von daheim vergessen haben. Nun da aber der Tag des Heimwegs immer näher rückt, holen uns auch wieder die Sorgen von zu Hause ein. Hier kannten wir keine Sorgen. Wenn es uns an einem Ort gefiel, so blieben wir einfach stehen. So ließen wir uns einmal dorthin, ein andermal hierhin treiben. Nichts ist für mich schlimmer als ein perfekt durchgeplanter Urlaub, der vorschreibt, wann ich wo und wie zu seien hab`. Das ist Urlaub für hypnotisierte Arbeitsmaschinen. Aber noch schlimmer sind die Ferien, wo man die ganze Zeit an einem Ort gebunden ist. Wo man nichts als das Hotel in dem man schläft, den Strand und die Touristenboulevards sieht. Die ganze Zeit ist man von Landsleuten umgeben, vor denen man ja eigentlich die Schnauze gestrichen voll hat. Wir sahen die Weite dieses Landes, wir fühlten sie. Bewegten uns fernab von den Touristenrouten, lernten so das Schottland, wie man es nicht einmal aus dem Fernsehen kennt, kennen und das Schottland, daß die Massentouristen nie kennenlernen werden, weil es sich ihnen nicht öffnen wird, denn es will entdeckt und nicht gekauft, oder besetzt werden. Am stärksten beeindruckt war und bin ich, falls ich es so nennen will, von den Highlands, da ich mir vorstelle, daß die ganzen Wiesen und Weiden alles mal Wälder waren. Es ist ein ergreifender und unheimlich ängstigender Gedanke zugleich, wenn ich mir sage, daß wir Menschen es waren, die dieses Land waldlos gemacht haben.

 

Liebes Tagebuch 13.10.1992

Wenn ich mir so überlege, daß ich mich über die all zu harte Arbeit hier im Krankenhaus beklage und in Ägypten die Krankenhäuser vor Verletzten fast zusammenbrechen, komme ich mir doch ganz schön verwöhnt und jämmerlich, gar weichlich vor. Und überhaupt, wird von uns nur dies bejammert und jenes beklagt, doch nur selten kommt ein Wort der Zufriedenheit, des Wohlergehens über uns`re Lippen. Es geht uns viel zu gut, so schätzen wir doch den Wohlstand, den wir haben, aber auf gar keinen Fall mit den Armen dieser Welt teilen wollen, nicht im Geringsten. Fliessend Wasser aus der Wand, sauber und auch trinkbar klar, Nahrung gibt's im Überfluß, Strom für die viel zu vielen strombetrieb`nen Dinge, die man eigentlich gar nicht braucht, und dennoch haben muß.

 

15.10.1992

Wohin hat dich wer auch immer nur gebracht? Was und wer hat euch zu diesen Taten, die ich Verbrechen schimpf`, nur bewogen? Welcher Teufel, dem es durch sein Verlangen nach Ate lüstert, ist in Eurem Geist gefangen? Wo sät ihr eure Drachenzähne, daß eure Zahl gar täglich wächst? Warum hat Metis euch Arimaspen, daß ihr das Gold der Horen vernichten könnt, ihren Dienst und ihren Geist nur vorenthalten? Hat Thanatos euch nicht schon genug geholfen? Wieso habt ihr die Erinyen noch nicht an euren Fersen, sind denn eure Schreckenstaten so verhaßt, daß selbst diese sich vor euch ekeln? Wie kommt es nur, daß ihr die Hoffnung hegt, daß ihr erneut die Welt mit eurem zweiten 1000-jährigen Reich versklaven könnt?

 

Liebes Tagebuch 2.11.1992

Bert hat uns einen Brief geschrieben, es scheint ihm gar nicht so übel zu gehen. Die Jungs auf seinem Zimmer sind zwar nicht Partyreißer, aber es läßt sich mit ihnen auskommen. Aber ich glaube nicht, daß es ihm besser dort geht als mir hier. Zumal ich jeder Zeit meine Clara sehen kann. Was ihm sicherlich schwerfallen dürfte, seine Julia zu sehen. Sie hat sich seit Bert zur Fahne ist nicht mehr blicken lassen. Clara ist das egal, mir eigentlich auch.

 

20.11.1992

Hamlets Wirken

Noch nie standen die Tränen mir nach einem Film so nah,

Wie diesem, den ich soeben sah.

Ich weiß nicht, ob mich das Stück nur hat berührt,

Oder meine Seele mit meinem Geist so stark verrührt?

Noch nie hat mich ein Werk so benommen,

Wurd` mir jeglich` Verstand genommen.

Nun weiß ich, wie es Goethe ging,

Shakespeare las und gleich darauf in seinen Bann verfing.

Ich las mit viel zu jungen Jahren

Romeo und Julia, und sie konnten mir nichts sagen.

Vor nicht allzulangen Tagen

Sah ich Macbeth, doch lag er mir allzuschwer im Magen.

Und heute vernahm ich Hamlets Wort,

Er packte und trug mich mit sich fort.

Eine Tragödie in höchsten Versen,

vorgetragen von Schauspielern und Komparsen,

Die wuchsen über sich hinaus,

Ich mich verneige, wie einst vor Faust.

Beruhigt hat sich mein Herz noch immer nicht,

Nun muß mein Geist, der meinem Herz verspricht,

Das höchste an Lyrik anzustreben,

Hält er`s nicht, werd` ich mir nie vergeben.

 

Liebes Tagebuch 24.11.1992

Und noch immer haben sie nicht genügend böse Taten hier vollbracht. Ihr Schrei`n wird Laut um Laut immer lauter, morden, töten in ihrem Wahnsinnsrausch. Rühmen sich der Taten, die einst von ihren Vorfahren in geistloser Umnachtung an der Menschheit grausam getan wurden. Wollen ihren Staat, der kein "Anders" toleriert. Zeigen ihr ritterliche Tapferkeit, indem sie aus der dunklen Masse Flammen auf Frauen und Kinder werfen. Doch schuld sind diese tapf`ren Ar(i)schkrieger nicht allein. Alle die, die nur zu- und weggesehen haben, sind von Schuld genau so wenig frei. Gerad` die Labersäcke in den Parlamenten trifft die größte Schuld, weil ihr Nichthandel einer Bewegung eines Hauses gleicht, denn sie reden und sie reden und am Ende - hat doch keiner was gesagt. Schützen ihre Interessen, Macht und Reichtum wird gefressen - alles and`re wird versagt. Ich fall immer öfter immer tiefer in Depressionen, nichts als Elend auf der Arbeit, nichts als Elend auf der Welt, doch keiner kann - will was ändern, niemand ist gewillt.

 

4.12.1992

Kaufen, kaufen, nichts als kaufen, alles kaufen. Laufen, laufen, kurz verschnaufen, auch ein Schlückchen Glühwein saufen. Ist es nicht zum Haare raufen? Ach was bin ich froh - daß ich nicht bin so - daß ich anders bin - in ihren Augen eben schlimm. Weihnachten, ein Fest der Liebe? Nein. Ein Fest der Diebe. Reden uns ununterbrochen ein, das brauchen wir! Ach das ist fein. Glauben sie mir!

 

Liebes Tagebuch 8.12.1992

Ein Telefonat und schon sieht die ganze Welt wieder etwas besser aus. Clara wollte wieder zu Rötschels, denn es gefiel ihr sehr bei Baucis und Philemon, wie sie die beiden herzlich nannte. Nun fahren wir zu ihnen, zur Weihnachts- und Silvesterzeit.

 

12.12.1992

Aug` um Aug`, Zahn um Zahn, sicher ist, was wir getan, können wir nie mehr beheben, viel zu groß sind all die Schäden, die wir uns`rer Erde täglich größer neu zufügen, trösten uns mit immer neuen Lügen, daß doch alles gut ausgehe, weil der Wind sich nun bald drehe. Schad` ist nur, daß die Natur, erst die Zähne und die Augen, der Menschen, die in Armut wohnen, schmerzhaft holt. Und sich nicht bei denen gönnerhaft bedient, die es haben wohl verdient, die in den Industrienationen, die ja, wenn man `s wohl betrachte, schuldig sind, weil die Amputationen, die man täglich an der Erde neu vornimmt, für den Luxus verschwenderisch bestimmt, volle Bäuche voller machen, und Eris hör` ich in der Ferne lachen, denn die Kluft zwischen reich und arm sieht man immer größer klaffen.

 

Liebes Tagebuch 19.12.1992

Auch wenn ich nur das Essen den Kranken bringe, reicht mein Kontakt um an ihrem Schicksal teilzunehmen. Und begebe mich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens. Dem Sinn des Werdens und des Vergehens. Der Sinn des Lebens, worin besteht er?! Warten auf den Tod? Ja, warten auf den Tod. Davor in tiefe Depressionen sinken, im geistigen Krieg sich selbst zerstören und im Selbstmitleid die Erlösung hoffen. Das in sich hineinfressen von Problemen und das Abkapseln von der Außenwelt, eine Mauer um sich aufbauend. Bis ein Mensch kommt, der einen aus dem Trauma reißt und zeigt, daß es auch anders geht. Was aber letzten Endes doch nur eine Illusion ist, wie das ganze beschissene Leben eine verkackte Illusion ist. Der wahre Sinn des Lebens besteht darin, daß es ihn nicht gibt und man ihn trotzdem sucht. Der Sinn ist die Illusion. Wer das durchschaut hat, beschleunigt bewußt seine Selbstzerstörung. Ich will entscheiden wann ich geh`! Nicht so ein karrieregeiler Arzt, der sich einen Namen machen will, weil er einen Körper eines toten Geistes künstlich am Leben gehalten hat, soll mich gehen lassen, wann und wie es ihm gefällt.

 

Liebes Tagebuch 7.1.1993

Noch keine Woche von Rötschels zurück hat Clara mir gesagt, daß sie im Sommer nach Skandinavien will, mit mir allein in eine Hütte. Wo kaum Menschen sind, und keine Touristen, mitten in die Natur. Und so ist sie vorhin in ein Reisebüro gegangen und hat sich sämtliche Kataloge von den verschiedensten Reiseveranstaltern geben lassen. Ich vertraue ihrer weiblichen Intuition und lasse mich überraschen, was sie wohl finden wird.

 

Liebes Tagebuch 12.1.1993

Clara schafft es immer wieder mich zu überraschen. Sie fragte mich ob ich mit Norwegen einverstanden wäre, ich nickte und sie buchte. Nun ist alles unter Dach und Fach, Flug, Mietwagen und Hütte. Und ich habe von nichts `ne Ahnung. Ich mach mir aber auch keine Sorgen, denn wir versteh`n uns blind. Manchmal habe ich das Gefühl, daß unsere Wesen zu einem verschmelzen. Und wie oft habe ich mich gefragt, wie Bert nur ihr Bruder sein kann. Sie sehen sich nicht einmal äußerlich ähnlich, von den inneren Merkmalen ganz zu schweigen.

 

21.1.1993

Ich stell` mir vor, wie es wär`, wenn ich unendlich wär`. So muß es doch dem Weltall geh`n. Selbst das Leben uns`rer Erde, uns`rer Sonne wird zum Sekundenschlag. Das Universum kennt keinen Start. Von keiner Hülle ist es umgeben, Anfang und Ende, bestimmen nur unser unbedeutend Leben. Urknalltheorie, sie kann nicht sein, uns`re Vorstellungen, selbst von so manchen Genie, sind viel zu klein.

 

Liebes Tagebuch 24.1.1993

Ich fühl` mich so schlecht wie schon lang nicht mehr. Eben sah ich einen Bericht mit Clara über die Treibnetzfischerei. Sie fragte mich, ob ich das nicht schon alles wüßte. Ja sicher, ich hab` davon gehört, aber das es so schlimm ist, das war mir fremd. Mit dieser Technik kann man mit wenigen Schiffen in wenigen Jahren alle Weltmeere leerfischen. Wovon wollen dann die Menschen leben, die vom Meer abhängig sind? Netze, die hundert Kilometer und länger groß sind, die Ozeane quer durchkämmen. Wale, Delphine, Schildkröten, Haie und auch Vögel, die sich darin verfangen und jämmerlich ersaufen. Es sind die schwimmenden Fabriken, die alles gleich auf dem Meer verarbeiten. Sicherlich weil man Transportwege sparen will, aber erst recht, weil man der Öffentlichkeit keinerlei Chance geben will, von dieser Abschlachtung von Leben Notiz zu nehmen. Wir sind so krank im Kopf, daß wir nicht einmal mehr merken, daß wir unsere eigenen Eingeweide herausreißen lassen.

 

5.2.1993

Ist ein Leben noch ein Leben, wenn es nur noch von Maschinen kann betrieben? Wenn der Körper nicht mehr - nie mehr von allein kann existieren, ist es Mord, wenn Ärzte dagegen protestieren? Wenn sie die Apparate nicht mehr laufen lassen, so daß die Seele kann in Ruh` entweichen. Die sich für Götter halten, woll`n die Ärzte fassen, im Namen der vielen Leichen, genannt auch Volk, Tote lassen sich gut verwalten. Ist es nicht ein Menschenrecht, im hohen Alter stolz zu sterben, und nicht um des Ruhmes Willen eines Arztes mit Beamtenseele länger noch auf dieser Welt nutzlos einfach auszuharren? Wie weit wollen wir uns noch zu Ratten machen, die im Labor für immer wachen, nie mehr träumen, nur noch all die Wege von den Professoren säumen?

 

24.3.1993

Maßlosigkeit

Wenn Hagel, Schnee und Regen

Die Erde stark bedecken,

Der Traum von Sonnensegen

In Menschenherzen wecken.

 

Sonnenstrahlen trocken fegen

Die Erde ganz bedecken,

Der Traum vom großen Regen

In Menschenherzen wecken.

 

Menschen lieben nur,

Fordern gar von der Natur,

Was sie zur Zeit nicht haben,

All wirklich wertvoll` Gaben,

Zum stillen ihrer Gier.

 

Das Ich regiert - und nicht das Wir.

 

Liebes Tagebuch 17.4.1993

Immer häufiger werde ich von tiefen Zweifeln geplagt. Sie reißen mich in düstere Depressionen und passive Leere hindert all mein Bestreben dort wieder herauszukommen. Clara hat von all dem noch nichts mitbekommen, hoffe ich. Am Wetter kann es nicht liegen, draußen ist das allerschönste Aprilwetter, die Vögel sind los und die Pflanzen sind so fett grün, nein am Wetter liegt es nicht. Es sind die Menschen, die mir Angst machen. Wir, mit unseren verfluchten Taten, die nur vor Dummheit strotzen.

 

Liebes Tagebuch 30.5.1993

Der Staat ist einfach unfähig etwas gegen diese Mörder zu unternehmen. Man könnte fast glauben, daß er es toleriert. Wie ich, sind Millionen Menschen betroffen. Doch was nutzt jede Betroffenheit, wenn man nichts unternimmt. So versetzen Hunderte von radikalsten Assholes Millionen von Zivilisten in Angst. Und immer kommen sie nachts, wenn alle Menschen schlafen. Mir scheint, daß das Gesetz wenn es sich um diese Taten handelt auch am Tage schläft. Und die Politik will wohl nie mehr erwachen. Anders kann ich für diese Haltung, diese Aktivität, die diese Regierung an den Tag legt, keine Erklärung finden. Wie lange muß mein Auge noch solche Ungerechtigkeit sehen, mein Ohr hören, mein Herz fühlen. Wie oft habe ich mir schon vorgestellt, wenn ich unsichtbar wäre, wie ich alle Tyrannen dieser Erde von der selbigen beseitigen würde. Bei diesen Gedanken durchfließt mich jedesmal ein unbeschreibliches Gefühl von Glück, bis ich aus meinem Traum erwache und die Realität schweren Herzens ertragen muß. Ich will nicht mehr!

 

Liebes Tagebuch 31.5.1993

Wie rasant die Zeit doch vergeht. Gestern ist meine Clara tatsächlich zweiundzwanzig geworden. Bert hat Urlaub und kam mit Julia vorbei. Claras Ma hatte lecker`n Kuchen gebacken und wir verbrachten zusammen den Nachmittag. Aber irgend etwas scheint mit ihr nicht zu stimmen. Clara ist es als erste aufgefallen, als sie es mir sagte, bemerkte ich es auch sofort.

 

28.6.1993

Egal wie sie sich winden, egal wen auch immer sie als Sündenbock nun finden, der Beweis ist erbracht, auch wenn sie es nie gedacht, Todesstrafe war nie aus diesem Lande fort, in Bad Kleinen war`s eindeutig - Mord. Wolf, du hast uns, wenn auch nur für kurze Zeit, deine Klauen unter`m Schafsfell vorgezeigt. Dafür sag` ich dir jetzt Dank, denn nun weiß ich - mein Geist ist nicht krank.

 

Liebes Tagebuch 13.7.1993

Mein Entschluß steht fest! Da ich immer noch nicht weiß, was ich denn studieren, oder ob ich mit einer Lehre beginnen soll. Und wenn ja, welche Ausbildung? Werde ich also ein "freiwilliges ziviles Jahr" absolvieren. Clara ist geteilter Meinung. Den Menschen zu Liebe, denen ich helfe, auch wenn ich nur ihr Essen bringe, die mich in ihr Herz geschlossen haben, ist sie dafür. Dem Staat und dem System - Nein! Na gut, ich mache`s ja für mich und den Patienten. Tamara ist auf meiner Seite und findet es gut. Sie versucht Clara davon zu überzeugen, daß es richtig ist. Doch ich weiß, daß meine Clara nicht einen Zentimeter von ihrer Position weichen wird. Aber es hat keine Auswirkungen auf unsere Beziehung, welch irrsinniger Gedanke. Ich mach` es aus Hilfsbereitschaft zu den Menschen, die Hilfe brauchen, man muß dazu kein Christ sein und an eine Fata Morgana glauben, um so zu handeln. Die ganze Welt ist doch voll von Menschen, die unsere Hilfe und Liebe brauchen, hilft es doch nicht nur ihnen, sonder auch dem, der hilft. Japan ist das aktuellste Beispiel für spontane Hilfe. Und Japan ist nicht nur gestern gewesen, sondern immer und überall. Wer weiß denn schon, wann und wo die nächste Naturkatastrophe geschehen wird?

 

Liebes Tagebuch 20.7.1993

Clara hat nun endlich eine Wohnung bekommen. Mitte September kann sie die Zweiraumwohnung bezieh`n. Ich werde aber erst einmal bei meinen Eltern wohnen bleiben. Es wird sich irgendwie die Zeit finden, in der ich ganz und gar zu ihr ziehen werde. Meine Eltern finden es richtig, wie ich mich entschieden habe und auch Clara ist der Meinung, daß es so besser ist, für`s Erste.

 

Liebes Tagebuch 1.8.1993

Mein Antrag auf das zivile Jahr wurde ohne Probleme genehmigt. Ich bin etwas stolz auf mich, auch wenn Clara mir prophezeit, daß ich es bestimmt bereuen werde. Und morgen fliegen wir nach Norwegen, ein Glück daß wir nicht nach Amerika fliegen, sonst würden wir mit Sicherheit nasse Füße bekommen.

 

Liebes Tagebuch 6.8.1993

Jetzt sind wir schon vier Tage hier und ich kann mich immer noch nicht an diese natürliche Schönheit gewöhnen. Ich kann mich einfach nicht sattsehen. Clara geht es ebenso wie mir. Sie redet eh nur sehr wenig, aber hier noch weniger. Ihre Verzauberung ist nicht nur in ihr Gesicht gemalt.

 

Liebes Tagebuch 7.8.1993

Noch nie habe ich mich so wohl gefühlt wie hier. Ich sitze hier auf dem Gipfel, rings um mich sind nur Steine, Zeugnisse der Geschichte. Doch erst hier, wo ich sie mit Flechten bewachsen vor mir liegen sehe, wird mir so richtig bewußt, wie unbedeutend wir doch sind. Es wird mir von der Natur ein Schauspiel geboten, so daß ich mich frage, ob ich es überhaupt verdient habe. Ich bin mir zwar keiner Schuld bewußt, doch habe ich noch nichts würdevolles vollbracht. Wir haben Sommer und in der Ferne sehe ich schneebedeckte Berge, die in Wolken gehüllt nur hin und wieder einen kleinen Blick gestatten. Und wie durch die Meisterhand eines Lichtregisseur wird ein Berg nach dem anderen durch Sonnenstrahlen in Szene gesetzt. Eine Regenwand versucht wie ein Vorhang aus Nebel die Luft in zwei Teile zu trennen. Kühle aber angenehme Luft hüllt mich ein. Hinter mir schimmert ein klarer Bergsee, wie ein Mosaik aus unzähligen Silberlingen beweglich auf einem Wackelpudding befestigt. Und dann dieses Abendrot, es ruft eine melancholische Stimmung in mir hervor. In all der Zeit wie ich hier oben sitze, die Zeit für mich unbedeutend ist, es ist irgendwann Nacht, schreibe ich und bin von so viel Glück erfüllt. Meine glasigen Augen rühren sicher nicht nur vom Wind. Clara entdeckt hier was, da was, und läuft um mich wie eine Löwin, die ihre Beute umkreist, läßt sie mich nie recht aus den Augen und ich sie auch nicht.

 

Liebes Tagebuch 11.8.1993

Es ist erschreckend, aber wir sind überfordert. Nun ist einfach der Zeitpunkt gekommen, an dem ich meine, daß der Urlaub hier zu Ende sein sollte. Ich kann eh nicht alle Eindrücke wahrnehmen, geschweige, daß ich sie in mir festhalten kann. Bruchstücke, Fetzen von Eindrücken kann ich ergreifen, mehr nicht. Als befände ich mich an einer bunten Bilderwand entlang im freien Fall und neben mir fällt meine Clara.

 

Liebes Tagebuch 14.8.1993

Und wieder waren wir beim Sonnenaufgang. Ich trat in eine Stimmung ein, die ich schon kannte aber sie ist so lange weggewesen. Verklärungen ohne Depressionen, nachdenklich aber nicht traurig, sah ich in die aufgehende Sonne. Eine Vision brannte sich in mein Kopf, ein Bild. Eine Struktur im grellsten grün und gelb.

 

Liebes Tagebuch 27.9.1993

Für mich hat sich nichts geändert. Ich fahre das Essen im Krankenhaus herum, helfe in der Küche und kümmere mich auch mal um traurige Kinderherzen. Es ist genauso, wie es in meinem Zivildienst war. Bert ist der Meinung ich sollte mich von einem Neurologen untersuchen lassen. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, noch ein weiteres Jahr Zivildienst leisten zu wollen, wenn man gerade seine Zeit beendet hätte. Doch Tamara und auch Julia finden es toll jemanden zu kennen, der nicht nur an`s Geld denkt.

 

Liebes Tagebuch 1.10.1993

Ich fühle mich so niedergeschlagen. Ich kann es einfach nicht ertragen, dieses Gefühl alles sehen zu müssen und nichts verändern, verhindern zu können. Eigentlich wollte ich schon längst schlafen, aber ich bin zu aufgedreht. In fünf Stunden muß ich aufstehen und zur Arbeit. Irgendwas muß sich verändern. Vielleicht sollte ich mit Rauchen und Trinken anfangen, es mag sein, daß es die falsche Veränderung wäre, weil es der falsche Weg ist, aber zur Zeit scheint mir alles falsch zu sein. Ich sehe in allen Sachen keinen Sinn mehr. Ich brauche ein Zeichen. Und keine Naturkatastrophen wie in Indien. Die holen mich doch noch viel schneller herunter. Warum kann ich nicht so gleichgültig wie Bert sein, so naiv wie ein Kind? Am Feiertag fahre ich mit Clara in jedem Fall nach D., denn ich muß hier raus. Ich halt`s nicht mehr aus.

 

11.10.1993

Dies ist nun mein eigen Heim und Zufluchtsort. Wenn ich draußen nicht mehr atmen kann, weil sie meine Lunge schnüren, geblendet nichts mehr sehen will, weil sie den Wolf zum Hirten küren, der Geschmack von Demagogie mich zum brechen bringt, der Mief von Korruption mein Hirn zum Rassen zwingt. Kann ich hierher - nach Hause kehren und mich um die Gesellschaft einen Scheißdreck mären. Ist es auch nur für kurze Zeit, die mir dann zum Träumen bleibt. Denn Träume geben Kampfeskraft, die neue Hoffnung schafft. Doch ich muß mit Klarheit seh`n, um das Leben zu versteh`n, auch wenn ich dabei werd` zugrunde geh`n.

 

Liebes Tagebuch 14.10.1993

Wie wollen wir noch atmen können, wenn wir unsere grünen Lungen niederbrennen? Es ist doch zum kotzen. Hauptsache die Kasse stimmt. In fünfzig Jahren wird es keine Regenwälder mehr geben. Dann werden nicht nur die Kassen leer sein. Und meine Tränen können daran auch nichts ändern. Warum?! Ist es denn so schwer zu verstehen, daß diese Wälder heilig sind, wie die ganze Erde?

 

8.11.1993

Leben

Mädchen träumen Mädchenträume,

Jungen haben ihr Gebet,

Keiner wird je tot geboren,

Der einen Tag erlebt,

Viele sind erfroren,

Denn leblos kalt sind unsre Räume.

 

Erwachsen werden darf nicht bedeuten,

Duldsam auf den Tod zu warten,

Jugendträume schnell entsagen,

Ein Leben wächst durch viele Taten

Und nicht durch kampfloses Ertragen

Des Schicksals Gottes Leuten.

 

Glücklich ist, wer Träume sich bewahrt,

Und nicht bewegungslos verharrt.

 

6.12.1993

Was ist nur aus dem Sport geworden? Politik, Macht, als Jagd nach den Rekorden? Ich dacht`, dies kann nicht möglich sein. Ich dacht`, die Dopingzeit wär` längst vorbei. Sie kommen aus fernen Orten, diese Dinger aus den Retorten. Frauen können dies nicht sein, ausgeschlossen, nein. Fehlt ihnen doch jeder Zug von Weiblichkeit, sind alleine nur dem Sieg geweiht.

 

7.12.1993

Wolf, du hast die Gans gestohlen! Jetzt kamen dich die Henker holen. Mit weißer Klaue und hohem Tone, nutzte nichts, stieß man dich doch von deinem Throne. Doch bang` muß dir nicht sein, denn die Westen derer die dich richten sind auch nicht rein.

 

Liebes Tagebuch 10.12.1993

Terror von Rechts. Immer noch wird es bei uns nicht für richtig bedrohlich gesehen. Doch in Österreich gibt es mindestens genauso viele von dieser Brut. Ist von den Faschisten die Rede, weiß jeder, die Deutschen sind gemeint, doch unsere Landsleut` in den Alpen, waren nicht weniger eifrig mit der Judenverfolgung. Und auch die breite Bevölkerung dachte doch nationalsozialistisch. Und aus dem Nichts tauchen diese rechten Briefbomben auf. Keiner kann sich erklären woher die wohl kommen. Soll ich nun drüber lachen, daß alle so erschrocken sind, wie sehr doch die Rechten Gewaltbereitschaft zeigen, es waren doch sonst immer so`ne netten Buben, oder um die Unschuldigen weinen?

 

Liebes Tagebuch 16.12.1993

Wieso habe ich nicht auf Clara gehört? Sie sagte noch: "Du wirst es bereuen!" Ich wollte doch nur helfen. Meine Hilfe wird ja auch gebraucht, doch leider unterstütze ich mit meiner Arbeit diese ungerechte Gesellschaft. Wer von den hohen Damen und Herren würde sich denn so weit herabwagen und ein freiwilliges ziviles Jahr absolvieren? Sie leben in Saus und Braus, meckern auf die Kleinen und machen selbst keinen Finger krumm. Bezeichnen ihre Beschäftigungstherapien als Arbeit. Eine Beleidigung für alle arbeitenden Menschen. Doch nun habe ich mir die Suppe eingebrockt, nun muß ich sie auch allein runterwürgen und auskotzen. Es sind ja nicht einmal die Punkte, daß ich nichts verdiene und sparen kann, daß mir Rentengelder verloren gehen, daß mein Arbeitslosengeld nicht steigt, falls ich mal ohne Job dastehe. Ich mache meine Arbeit wirklich gern, die Kranken danken es mir und ich seh` doch selbst wie notwendig sie ist. Aber nicht für diese mir so verhaßte Gesellschaft!

 

Liebes Tagebuch 22.12.1993

Zu schwer fallen mir noch , klare Gedanken zu fassen. Seit achtzig Stunden habe ich keine volle Stunde Schlaf gefunden. Mir geht Tamaras Tod, ich kann`s nicht sagen. Doch meiner Clara geht`s viel tiefer. Ich habe große Angst um sie. Der Schock hat noch kein Stück an Kraft verloren. Der Arzt gibt ihr Spritzen. Was mich betrifft, ich weiß es nicht?

 

 

 

Auswahl

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Dramen Kontakt: Ray Helming